Gefahr und Möglichkeit

In der chinesischen Schriftsprache wird das Wort Krise aus zwei Schriftzeichen zusammengesetzt. Das eine Zeichen repräsentiert Gefahr. Das andere repräsentiert Möglichkeit.

Seit etwa einem Jahr setzen wir uns hauptsächlich mit den Gefahren der Coronakrise auseinander und kaum mit den Möglichkeiten, die sich für jede*n von uns eröffnen. „Wann ist es endlich ‚rum?“ wird zur neuen Leitfrage.
Aber was genau ist damit eigentlich gemeint? Wünschst du dir wirklich, dass nach der Krise alles wieder genau so wird wie vorher? Wie viel Angst ist da im Spiel und wie viel Neugierde?

„Es ist keine Schande, in eine Krise zu geraten, aber es wäre ein Fehler, sie nicht zu nutzen“, erklärt Journalist und Autor Geseko von Lüpke. In seinem bereits 2010 erschienen Buch bringt er schon im Titel auf den Punkt, worum es ihm geht: „Zukunft entsteht aus Krise“.
Dass das Coronavirus ein Feind ist, der bekämpft werden muss, ist unter diesem Gesichtspunkt eine geradezu infantile Haltung. Andererseits spricht aus dem Appell „wir werden das Virus gemeinsam besiegen“ eine mythische Poesie, die ich unserer Kanzlerin gar nicht zugetraut hätte.

Was auch immer man davon halten mag – evolutionäre Dynamik ist nicht gerade ein prägendes Merkmal unserer vielfältigen Reaktionen auf die Krise. „Ob sprachgeschichtlich oder wissenschaftlich: Überall werden wir darauf verwiesen, dass Krisen eine notwendige Stufe in Transformationsprozessen darstellen, in denen komplexe Systeme, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, sich auf dem nächsthöheren Niveau eine neue Balance suchen“, schreibt von Lüpke und verweist darauf, dass traditionelle Kulturen verstanden haben, dass individuelle Transformation durch einen Prozess von Tod und Wiedergeburt zu gehen hat, bevor das Neue greifen kann.

Dieses Verständnis führte dazu, dass es dort ausgefeilte Initiations- und Übergangsriten gab, die das Durchleben von Krisen inszeniert, um Wachstums- und Entfaltungsprozesse zu ermöglichen. Im Gegensatz dazu ist die Coronakrise aber kein Ritual und wir haben uns auch nicht bewusst hinein begeben. Und genau deshalb ist es jetzt, wo wir mitten drin sind und den Schmerz ohnehin schon durchleben, umso wichtiger, die Chancen und Lernmöglichkeiten zu nutzen. Ansonsten war und bleibt die Krise ein überflüssiger Alptraum.

An diesem Punkt spielen Erzähler*innen seit tausenden von Jahren eine wesentliche Rolle bei der Begleitung von Menschen: Sie erzählen Geschichten, deren archetypische Kraft in individuellen wie kollektiven Krisen Halt und Orientierung bietet und daran erinnert, dass wir Menschen eigentlich für Krisen gemacht sind!

Soviel also zur Rolle, die Mythen und Erzähler*innen in Krisen einnehmen könnten. Möglicherweise liest sich das bis hierher ziemlich pathetisch – dabei ist es gar nicht so gemeint! Letztlich wollte ich darauf hinaus, dass die Coronakrise bei allen Einschränkungen auch Möglichkeiten bietet, reichlich Lernerfahrungen zu sammeln. Und ja: irgendwie erinnert mich das an meine Schulzeit. Auch da konnte ich reichlich Lernerfahrungen sammeln, auch da lernte ich nicht wirklich freiwillig.

Aber zurück zum Thema – und damit zur Frage: Was haben wir, der Verein Nomadische Erzählkunst e. V., eigentlich aus der Krise gelernt? Immerhin hatten wir für den 20. März das Erzählkunstfestival „Weltgeschichtentag“ geplant – und damit den Versuch unternommen, mitten im Lockdown eine kulturelle Veranstaltung durchzuführen, die alle aktuellen Beschränkungen erfüllt.
Der Aufwand war enorm und das Ergebnis kam trotzdem nicht annähernd an das „richtige“ Festival heran. Das war uns im Orga-Team natürlich vorher schon klar und wir haben uns auch gefragt, ob es nicht besser wäre, die Veranstaltung gänzlich zu streichen. Das Nein war eindeutig: Wir suchten die Herausforderung und wir bekamen sie auch. Die Ernte bestand in diesem Jahr weniger in einem großartigen Festival, sondern vielmehr in reichhaltigen Lernerfahrungen. Abgesehen von den generellen Erkenntnissen, die wir in unserem Wirkungsbericht (S. 11) festgehalten haben, ist jede*r aus dem Orga-Team noch zu ganz eigenen Einsichten gelangt:

zur Öffentlichkeitsarbeit:

Kathinka

Das Festival zu bewerben, war in diesem Jahr gar nicht so einfach: Zum einen haben wir diese „Corona-Version“ des Weltgeschichtentags erst ziemlich spät entwickelt. Dadurch wurde die Zeit knapp und reichte letztendlich nicht mehr aus, ein richtiges Werbekonzept zu entwickeln.
Zum anderen haben viele Leute offenbar gar nicht damit gerechnet, dass mitten im Lockdown überhaupt kulturelle Veranstaltungen stattfinden können.
Zudem hatten wir weder Flyer noch Plakate oder sonstige Printmedien, sondern haben uns voll auf Social Media und die gute alte „Mund-zu-Mund-Propaganda“ gestützt. Das war ziemlich heikel: Vor allem wegen der Schwierigkeiten mit dem Buchungssystem waren die verfügbaren Plätze erst kurz vor knapp ausgebucht.
Bei einer größeren Veranstaltung wäre diese Vorgehensweise sicher ein Fehler gewesen, unter den gegebenen Umständen erschien es uns aber angemessen und hat letztendlich auch funktioniert.

zum Einsatz digitaler Technologien:

Daniel

Der Einsatz digitaler Technologien ist nicht per se nützlich, sondern erzeugt in erster Linie Aufwand.
Der Aufwand entsteht erstens durch Suche und Auswahl geeigneter Tools, die Frage der Kompatibilität mit dem bereits vorhandenen System, die Einbettung, Konfiguration und das Testen sowie ggf. die Einrichtung von sog. „Workarounds“.
Zweitens ist der Produktivbetrieb digitaler Tools immer mit einer Lernphase verbunden, bis die Technik und vor allem deren Verständnis bei den Anwendern in allen Details verstanden und angepasst wurde. Diese Erfahrung haben wir zuletzt mit dem Anmeldeformular unserer Workshops gemacht.
Ob sich der Aufwand also tatsächlich lohnt, ist eine Frage der Wiederholungen. Man kann als Faustregel festhalten: Je öfter eine Aufgabe standardmäßig erledigt werden muss, umso eher ist der Einsatz von Technologie nützlich und der Aufwand mag gerechtfertigt sein. Beim Buchungssystem war eindeutig nicht der Fall, bei der Fahrradrallye dagegen schon.
Trotzdem darf man auch in diesen Fällen nicht vergessen, dass Technologie die Möglichkeiten sozialer Interaktion eher einschränkt als unterstützt. Gerade als Erzählkunstverein müssen wir uns immer wieder die Frage stellen, wie wir die „Mensch-zu-Mensch-Kommunikation“ verbessern können.

zu verschiedenen Erzählformaten:

Nikola:

Mit der Fahrradrallye-Geschichtensuche haben wir ein völlig neues Format gewagt, das sich in der Kombination „Bewegung und Erzählorte erraten“ sehr gut bewährt hat. Dafür haben wir sehr positive Resonanz und große Dankbarkeit erfahren. Viele Orte waren gut ausgesucht und haben Stadtviertel miteinander verbunden.
Andererseits waren zum Weltgeschichtentag nicht alle Erzählorte in gutem Zustand; manche waren vermüllt oder verschmutzt. Außerdem waren die Abstände zwischen den Orten manchmal zu groß. Wir haben zu wenig Pausen für die Erzählreisenden eingeplant und unterschiedliche Reisegeschwindigkeiten nicht berücksichtigt. Wir haben mit diesem Format keine bildungsfernen Familien erreichen können. Hier hätten wir zu den Orten der Familien kommen müssen und dies im Vorfeld explizit bewerben müssen.
Wie erreichen wir die Menschen? Dies ist immer wieder eine zentrale Frage. Das Wohnzimmererzählen ist eine Möglichkeit, die leider seit Corona stillsteht. Aber es gibt auch andere partizipative Formate und Erzählformen – z. B. das gemeinsame Erfinden von Geschichten mit den Zuhörer_innen oder Storyslams, bei denen Erzählteams in Wettbewerbsform gegeneinander antreten oder auch Audioguides, bei dem entweder die Guides oder die Teilnehmenden das Geschehen partiell beeinflussen können. Im kleineren Rahmen könnten wir das im Laufe des Jahres schon mal ausprobieren und erste Erfahrungen sammeln, sobald das wieder möglich ist. Diese Erfahrungen könnten unmittelbar in das Konzept des nächsten Weltgeschichtentags 2022 einfließen.

zu „Nachwuchserzähler*innen“:

Claudia:

Es ist super, dass der Verein selbst Erzählerinnen ausbildet und dadurch mit der Zeit die Grundlagen schafft, größere Erzählkunstprojekte durchzuführen. Gerade deshalb ist es aber auch wichtig, dass diese „Nachwuchserzählerinnen“ dann Gelegenheiten bekommen, Festival-Atmosphäre zu schnuppern und Erfahrungen zu sammeln.
Der Weltgeschichtentag könnte dafür eine gute Plattform sein. Die Entwicklung und Betreuung eines Erzählformates mit mehreren Beiträgen für Familien mit Kindern wäre eine ideale Bühne für Neu- oder Quereinsteiger. Das ließe sich möglicherweise auch als Outdoorformat, z. B. im Rahmen eines Spaziergangs gestalten.

***

Das Festival „Weltgeschichtentag“ hat in diesem Jahr bereits zum fünften Mal in Freiburg stattgefunden. Wenn alles wie geplant gelaufen wäre, hätten wir all diese Erkenntnisse nicht gewinnen können. Klar, irgendwie sind sie auch naheliegend. Wahrscheinlich hätten wir sie irgendwann in Form von Ideen entwickelt – und sie dann womöglich aus Bequemlichkeit nicht umgesetzt…

Krisen sind Entwicklungstreiber, das wird im eng umgrenzten Rahmen einer Veranstaltung genauso gut deutlich wie in Bezug auf die gesamte Menschheit. Die Zivilisation hätte nicht den heutigen Entwicklungsstand, wenn wir kollektiv nicht immer wieder durch Krisen gegangen wären.
Das ist übrigens kein Versuch, die Krise oder ihre Begleiterscheinungen schön zu reden, sondern ein Appell, den ganzen Mist wenigstens für irgend etwas Sinnvolles zu nutzen.

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