Die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit
- Daniel Hoeckendorff
- Februar 4, 2021
- 10:34

Jonas Bauschert (28),
Vernetzer für ein Gutes Leben für Alle
Würdest du dich als Aktivist bezeichnen?
Tatsächlich habe ich heute Morgen schon darüber nachgedacht, was ich eigentlich unter Aktivismus verstehe. Aus meiner Perspektive ist Aktivismus ein sehr breites Feld, das wirklich sehr viele Tätigkeiten umfasst. Ich würde mich nicht ganz klassisch als Aktivist bezeichnen, aber ich glaube, dass wohl die meisten Menschen, die sich mit Nachhaltigkeitsthemen, Klimawandel oder sozialer Gerechtigkeit auseinandersetzen und sich ehrenamtlich oder hauptamtlich engagieren, eine bestimmte Grundhaltung haben. Die Haltung, die dieser Arbeit – also auch meiner Arbeit – zugrunde liegt, kann man durchaus als aktivistisch verstehen.
Ich bin deswegen ein bisschen zwiegespalten: Im klassischen Sinne würde ich mich nicht als Aktivist bezeichnen, aber es gibt schon einiges in meinem Tun, das man als aktivistisch auslegen kann.
Was heißt denn dann aktivistisch?
Aktivistisch heißt für mich ganz klassisch: Mit den eigenen Werten öffentlich sichtbar werden und entsprechend handeln. Das kann in Form einer Demonstration sein, oder in Form einer Besetzung von Baggern oder einer Straßenblockade – aber auch, wenn ich schon im Rahmen einer Straßenkampagne Passant*innen anspreche.
Das meinte ich eben mit meiner Arbeit: Wenn ich mich mit Menschen vernetze oder Workshops organisiere, dann ist das ja nicht grundsätzlich und zwangsläufig aktivistisch. Wenn wir aber Aktionen unternehmen, in denen wir auch auf neue Zielgruppen zugehen und beispielsweise Menschen einbeziehen, die mit Themen wie ökosozialer Nachhaltigkeit und Klimaschutz noch gar nicht in Berührung gekommen sind, dann hat das doch ziemlich schnell einen aktivistischen Charakter.
Aktivismus ist also Demo und ziviler Ungehorsam, aber auch zu einem guten Teil Bildungsarbeit.
Ganz genau.
In welchen Themenfelder bist du denn hauptsächlich aktiv?
Das lässt sich wohl am ehesten mit dem Begriff „soziale Gerechtigkeit“ umschreiben.
Ich habe viel mit Initiativen und Gruppen zu tun, die sich in irgendeiner Form mit diesem Thema auseinandersetzen wollen, oder dies bereits tun. Zum Teil kommen auch Gruppen auf mich zu, die ein bestimmtes Projekt vor Augen haben und eine Projektberatung brauchen. Dann setzen wir uns mit Fragen auseinander wie z. B. „Wie kann ich aus der Idee einen Projektcharakter entwickeln“, oder „Wie lässt sich das Vorhaben finanzieren“.
Soziale Gerechtigkeit ist ja sehr breit gefasst. Wenn ich eine grundlegende Form des Verständnisses beschreiben sollte, das alle diese Gruppen teilen, dann ist es vielleicht das Narrativ vom „Guten Leben für Alle“. Unterschiede gibt es dann im Fokus oder in den Ebenen, auf denen mit diesem Narrativ gearbeitet wird. Das kann zum Beispiel das Bestreben sein, Hierarchien abzubauen oder Machtstrukturen, oder eben auch Aktionen, die sich mit Umwelt- bzw. Klimaschäden auseinandersetzen.
Das heißt also, Aktivismus (und insbesondere dein Aktivismus) zielt darauf ab, zivilgesellschaftlich eine Form des „Guten Lebens für Alle“ zu erreichen?
Ja, so könnte man das beschreiben.
Und dabei ist mir wirklich wichtig, Aktivismus positiv zu konnotieren! Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir dazu tendieren, Menschen sehr schnell für ihre Handlungen zu verurteilen: Wenn jemand zivilen Ungehorsam leistet, wird diese Person in irgendeiner Form auch verurteilt. Wenn Kinder und Jugendliche auf die Straße gehen, um für eine Politik zu demonstrieren, die sich den Herausforderungen des Klimawandels stellt, dann ist das nach meiner Auffassung genau das Richtige, denn das löst eine Bewegung aus. Aber im nächsten Atemzug werden sie dann von gewissen Politiker*innen dafür verurteilt – weil sie nicht in die Schule gehen. Dadurch wird ihr Aktivismus negativ konnotiert. Und von genau diesem Verständnis möchte ich abrücken!
Ich denke, wir müssen eine Form des positiven Wandels schaffen. Und eine Form des positiven Wandels fängt damit an, dass wir positive Geschichten erzählen und dadurch sicherstellen, dass Aktivismus nicht etwas „gesellschaftlich Negatives“, sondern etwas „gesellschaftlich Positives“, etwas Notwendiges ist – und zwar in jeder möglichen Ausprägung. Durch das Besetzen von Baggern zivilen Ungehorsam zu leisten ist genauso notwendig wie eine Demo zu organisieren oder – und da komme ich wieder zu meiner eigenen Arbeit – Menschen zu vernetzen, die sich für die entscheidenden Themen einsetzen.
Das heißt also, Aktivismus und Protest ist nicht das Gleiche, sondern Protest verstehst du als eine Form und ein Bestandteil von Aktivismus?
Ganz genau. Im Grunde ist es eine Art Dreischritt, den wir uns mal am Beispiel der Mobilität anschauen können: Wir haben ein Mobilitätssystem, das wir zurückdrängen müssen, weil es so nicht weiter funktionieren kann. Dazu organisieren wir Demonstrationen mit Fahrrädern (die Critical Mass) oder mit Zu Fuß Gehenden, um das System auf diese Weise anzugreifen und zurückzudrängen.
Der nächste Baustein wäre, Alternativen vorzustellen. Positiven Wandel können wir nur erreichen, wenn wir auch positive Alternativen vorschlagen. Das könnten kostenlose Verleihsysteme für Fahrräder sein oder kleine Unternehmen, die verstärkt Lastenfahrräder bauen oder solche zum Ausliefern ihrer Waren nutzen oder irgend etwas anderes. Jedenfalls brauchen wir ernst zu nehmende Alternativen.
Und dann kommt der dritte und auch schwierigste Schritt: Diese neuen Mechanismen müssen auch irgendwie gesetzlich verankert werden, um in der Breite wirksam werden zu können. Wenn wir eine ökosoziale Transformation erreichen wollen, dann brauchen wir ein Zusammenspiel zwischen dem Verhalten des Individuums bzw. zwischen Vorschlägen aus der Zivilgesellschaft und gesetzlichen Verankerungen.
Aber um auf den Aktivismus zurückzukommen: Ja, ich glaube, dass Aktivismus nicht nur bedeutet, gegen etwas zu protestieren, sondern auch, Gegenvorschläge zu bringen, diese zu etablieren und zu manifestieren. Es geht ja in unserem Fall immer darum, einen Lebensstil zu präsentieren, und das spielt eine Rolle auf der Ebene des individuellen Verhaltens, aber ebenso auf der Ebene der Projekte, Vereine, Initiativen und Unternehmen.
Ich finde auf jeden Fall, dass wir viel stärker ins Aktivistische gehen, wenn wir nicht nur bestehende Probleme aufzeigen, bemängeln und Lösungen fordern, sondern stattdessen auch schon Lösungen vorleben und somit gleich den Beweis liefern, dass sie funktionieren.
Das gesetzliche Verankern bezeichnest du als Manifestieren – es geht also darum, eine neue Lösung zum gesetzlichen Standard zu erklären…
Ja, so sehe ich das. Es ist für uns nämlich sehr schwierig, von einem Standard zu sprechen, von einem allgemeinen Wissen, was „gut“ ist. Wir Aktiven, die wir uns ständig mit Themen wie Klimaschutz, Nachhaltigkeit usw. auseinandersetzen, bewegen uns ja momentan immer noch in einer sehr kleinen Blase. Und die muss Stück für Stück aufgebrochen werden, damit wir in einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess kommen, in eine Debatte, was denn eigentlich Gemeinwohl ist. Wie können wir dafür argumentieren, dass es allen Menschen gut geht, wenn wir auf Kosten anderer Menschen leben?
Eine Form von Gemeinwohl zu etablieren, in der wirklich ein gutes Leben für alle entsteht: Das ist meiner Meinung nach die Grundlage. Wir müssen also aus unseren kleinen Blasen ausbrechen und in irgendeiner Form eine gesetzliche Verankerung schaffen – und ich bin davon überzeugt, dass das funktioniert.
Das sehen wir beispielsweise daran, dass momentan eine sehr starke, etablierte Kampagne zu einem Lieferkettengesetz läuft. Die hat bereits Ende letzten Jahres so viel positive Veränderung geschafft, dass sich selbst Entwicklungsminister Müller und Arbeitsminister Heil dazu geäußert und gesagt haben, sie werden sich dafür einsetzen, das Gesetz voranzubringen. Das ist ein gutes Beispiel für eine Form von Aktivismus, in den sehr viele Menschen involviert sind und durch ihre Aufmerksamkeit bestimmte Themen gesetzlich verankern können.
Gesetzliche Verankerungen sind ja vor allem dann nötig, wenn nicht alle mitmachen wollen, weil sie die vorgeschlagenen Neuerungen für ihren Status quo negativ bewerten würden. Hast du eine Ahnung, welche Geschichten dahinter stecken?
Wahrscheinlich sind das Geschichten vom Verzicht. Im Prinzip ist das ja genau der Kern, an dem wir mit unserer Arbeit ansetzen wollen, sowohl im Eine Welt Forum als auch in vielen anderen Bildungsorganisationen: Wir wollen Menschen dahingehend erreichen, dass sie Suffizienz (also Genügsamkeit) nicht mehr mit Verzicht gleichsetzen, der natürlich negativ konnotiert ist. Ich bin sicher, der Mensch ist ein „Gewohnheitstier“; wir halten an Gewohnheiten fest, weil es sich gut anfühlt. Es ist eben die Aufgabe, der wir uns stellen müssen, diese Gewohnheiten in gewisser Weise zu irritieren, so dass Menschen erkennen können: „Aha – was ich hier mache geht auch ganz anders! Es gibt ganz andere Möglichkeiten, deren Strukturen sich auch viel besser anfühlen würden…“
Ich fühle mich nicht ganz wohl mit dieser Unterscheidung zwischen „denen, die mitmachen wollen“ und „denen, die nicht mitmachen wollen“. Vielmehr gibt es eine Gesellschaft, in der Menschen zusammenleben und einander auf ganz vielen verschiedenen Ebenen begegnen können. Da findet sich meist auch eine Ebene, auf der etwas Neues entstehen kann, auf der ich offen bin für neue, positive Lösungsgeschichten. Das ist dann der Ort, an dem ich lernen kann, dass mir niemand mein Auto wegnehmen will und dass ich darauf nicht verzichten muss, sondern dass es etwas unglaublich Befreiendes haben kann, mein Auto nicht benutzen zu müssen. Den Aktivismus mit diesem „befreienden Moment“ zu verknüpfen ist eine ziemlich schwierige Leistung, finde ich.
Gestern hatte ich im Rahmen von „Kaufrausch“, wo ich konsumkritische Stadtrundgänge leite, eine ähnliche Situation. Auch hier ging es um die Frage, wie wir Suffizienz positiv konnotieren können und ich habe das Beispiel vom „Ausmisten“ gebraucht. Eigentlich ist das so offensichtlich, aber offenbar doch sehr fern…
Wenn ich auf Dinge verzichte, die unnötiger Weise in meiner Wohnung sind, kann ich buchstäblich Ballast abwerfen, das ist etwas Positives, ich kann mich selbst befreien und werde dadurch plötzlich viel offener. Ich kann mich wieder in meiner Wohnung bewegen, habe wieder Platz auf dem Dachboden oder im Keller. Dies als Befreiung und nicht als Verzicht zu konnotieren, erlebe ich als eine unglaublich schwierige aber auch wichtige Aufgabe.
Das erinnert mich an eines der Prinzipien der Permakultur, nämlich an „Integriere mehr als du trennst“. Vielleicht beherrscht das der Aktivismus nicht so gut wie der Kapitalismus, Ideen nahezu immer positiv zu konnotieren und dann in sich aufzunehmen…
Ja, der Kapitalismus schafft es in der Tat, Dinge zu vereinnahmen und dann für sich selbst positiv zu nutzen. Und ja, wenn der Aktivismus langfristig erfolgreich sein will, muss er das auch schaffen. Wenn wir uns eine Lösung überlegt und ausprobiert haben, dann müssen wir sie so als Narrativ verwenden, dass sie sich nicht grundsätzlich gegen irgend etwas anderes stellt, sondern in der Lage ist, alles mögliche andere in sich aufzunehmen. Wenn wir das schaffen, sind wir auf einem guten Weg.
Lass uns das mal am Beispiel Mobilität ausprobieren: Wenn wir nur einen Gegenvorschlag bringen und sagen, wir wollen keine Autos mehr, sondern nur noch Fahrräder, dann würden wir für eine Lösung plädieren, die mit dem vorherrschenden System einfach nicht kompatibel ist und auch keine Anknüpfungspunkte bietet. Wir bräuchten also eher einen Vorschlag, der eine CO2-neutrale Lebensweise entwirft, die im bereits vorhandenen System funktioniert. Das heißt, Autos werden indirekt zurückgedrängt, indem sie ihre Attraktivität verlieren, weil es im Alternativkonzept eine Infrastruktur gibt, die sich stärker auf Fahrräder ausrichtet und ein gut funktionierendes öffentliches Nahverkehrssystem bietet. Auch Autos haben darin ihren Platz, z. B. in Form von Carsharing. Ein solcher Entwurf ist größer und umfassender und deshalb in der Lage, das momentan vorherrschende System, in dem Autos die dominante Macht sind, zu integrieren.
Dieser Ansatz ist meiner Meinung nach im gesellschaftlichen Diskurs viel erfolgversprechender als einfach nur einen Gegenentwurf zu präsentieren. Überhaupt glaube ich, dass wir noch viel stärker darauf hören sollten, was unsere Gegenüber zu sagen haben. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir stark verlernt haben zu kommunizieren. Kommunikation ist das, worauf wir unsere Gesellschaft eigentlich aufbauen könnten, wir tun es nur nicht mehr. Wir reden aneinander vorbei. Und wir brauchen Techniken wie beispielsweise das Erzählen, um miteinander wieder auf einer Ebene ins Gespräch zu kommen, auf der wir uns wirklich begegnen können. Das ist glaube ich einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zu einer Lösung.
Welche Rolle siehst du dabei jetzt genau für die Geschichten und die Erzählkunst?
Vorhin haben wir kurz vom Narrativ des „Guten Lebens für Alle“ gesprochen und daran möchte ich anknüpfen, wenn es um das Erzählen von Geschichten geht. Ich glaube, wenn wir uns mehr Geschichten erzählen, die nicht alltäglich sind, dann fällt es uns leichter, uns unserer eigenen Haltung gegenüber bestimmten Werten oder Situationen bewusst zu werden. Wenn wir zum Beispiel Kindern in Deutschland die Grimmschen Märchen erzählen, dann ist das nichts Außergewöhnliches, sondern etwas Gewohntes, denn diese Geschichten werden schon seit langem erzählt oder vorgelesen und sind dadurch sozusagen integriert. Das ist ja auch völlig in Ordnung, wir müssen uns nur darüber im Klaren sein, dass wir damit gewohnte Muster bedienen. Unsere Grundhaltung der Trennung von Mensch und Natur stellen wir damit jedenfalls nicht in Frage. Mit anderen Geschichten, anderen Narrativen, könnten wir unseren Umgang miteinander und mit der Natur oder anderen Lebensentwürfen hinterfragen.
Und damit sind wir wieder beim „Guten Leben für Alle“: Das Narrativ des „Buen Vivir“ aus dem südamerikanischen Raum erzählt davon, dass wir in einer Welt leben, in der Pachamama (Mutter Erde) uns alle nährt und unsere Lebensgrundlage ist. Da steht nicht mehr der Mensch im Mittelpunkt, sondern Natur und Mensch bilden eine Einheit.
Natürlich muss man damit auch vorsichtig sein. Wir sollten auf keinen Fall einfach fremde Kosmovisionen übernehmen und unreflektiert irgendwie in unsere lokale Kultur und Gesellschaft integrieren. Nein, wir müssen diese Formen, diese Erzählungen, diese Narrative nutzen, um durch gegenseitigen Austausch Inspiration für mögliche Veränderungsräume in unserer eigenen Kultur zu bekommen. Und in diesem Zusammenhang ist eben die Form des Geschichtenerzählens eine ganz besonders starke Kraft.
Durch das Erzählen von Geschichten kann Aktivismus also ein Narrativ definieren, das ein bestimmtes Lebensgefühl beschreibt, in dem gewissen Dinge vorkommen und andere eben nicht. Verstehe ich das richtig?
Das trifft es noch nicht ganz, denn genau das Gleiche macht der Kapitalismus ja auch. Wenn wir jetzt mal nach einem Beispiel fernab von Aktivismus suchen, können wir uns den Begriff „biologisch“ oder „bio“ anschauen. In dem Moment, wo dieser Begriff im Mainstream ankommt, ist er auch nicht mehr aktivistisch, denn er provoziert keine Veränderung mehr. Wenn der Begriff „bio“ auf einer Milchtüte steht, dann löst er in unserem Kopf Bilder von Natur und Verbundenheit zu natürlichen Systemen aus und suggeriert uns einfache Verhältnisse. Dass die darauf abgebildete Kuh womöglich noch nie in ihrem Leben eine Wiese gesehen hat und die Milch einen unglaublich weiten Transportweg hinter sich hat, steht auf einem ganz anderen Blatt. Der Kapitalismus nutzt unsere Assoziationen auf jeden Fall für seine eigenen Zwecke.
Die Geschichten, die Aktivismus erzählen will, sind von einer anderen Art: Hier sollen vor allen Dingen neue Bilder, Assoziationen und Ideen entstehen, wir wollen an die Phantasie der Menschen andocken.
Ich bin der Meinung, dass wir Utopien und Visionen in unsere tägliche Arbeit integrieren können und müssen. Wenn wir von „gelebten Utopien“ sprechen, klingt das vielleicht erst Mal widersprüchlich. Es kommt aber auf das Bezugssystem an: In Bezug auf unser gegenwärtiges System ist zum Beispiel ein Reparaturcafé eine gelebte Utopie, weil es so wenige Reparaturcafés gibt. Die wenigsten Menschen würden ihren kaputten Drucker in ein Reparaturcafé bringen. Die gelebten Utopien zeigen aber, dass es grundsätzlich geht, und das ist wichtig!
Wir leben in einer Informationsgesellschaft und es ist überhaupt kein Problem, sämtliche Lebensanschauungen gleichzeitig zu verbreiten. Als Ethnologe bist du sicher mit einigen Narrativen bekannt geworden. Und dennoch: Es gibt dieses eine Narrativ vom Wachstum, das offenbar alle anderen dominiert. Hast hast du dafür eine Erklärung?
Das hat sicherlich eine Menge Ursachen, von denen ich sicher ganz viele nicht kenne. Aber ich könnte mir vorstellen, dass einer der Gründe die Einfachheit ist. Unser System ist dualistisch aufgebaut, das heißt, wir denken in Gegensätzen: Mann und Frau, Natur und Kultur, heterogen und homogen. Es gibt durchaus auch in indigenen Kulturen dualistische Ansätze, aber in unserer westlichen Kultur beruht der ganze Entwicklungsgedanke auf der Trennung von Mensch und Natur. Auf diese Weise können wir uns abspalten, die Natur ausnutzen, damit machen, was wir wollen, und unsere Industriestaaten darauf aufbauen.
Ich glaube, das schließt ganz stark daran an, was wir gerade in Bezug auf die verschiedenen Bilder festgestellt hatten: Die westliche Welt und die Narrative, die ihr zugrunde liegen, spielen mit einer unglaublichen Macht – mit einer Bildmacht, einer Erzählkraft und mit einem ökonomischen System, das als die einzige Wahrheit dargestellt wird. Das ist eine Asymmetrie zu anderen Narrativen. Es ist also nicht so, dass wirklich alle Menschen auf der ganzen Welt den westlichen Lebensstil als attraktiv empfinden, sondern durch den zugrunde liegenden Expansionsgedanken hat er durchaus auch eine Eigendynamik und das ist das Gefährliche und Zerstörerische daran.
Dann lass uns zurück auf die Lösungen kommen: Das Einzige, was Lösungsräume begrenzen kann, ist unsere Phantasie. Geschichten können Kreativität provozieren…
Vor allem können sie durch Irritation gewohnter Muster das Zuhören provozieren. Es hat insbesondere in meiner Ausbildung zum Ethnologen eine große Rolle gespielt, zuzuhören und Geschichten aufzunehmen. Wenn ich dann in der Lage war, das Gehörte für die eigene Reflexionsebene zu nutzen, konnte das einen persönlichen Perspektivwechsel bewirken. Das ist glaube ich ein ganz wichtiger Punkt: In diesem globalen Verhältnis denken Menschen eben in unterschiedlichen Systemen und haben unterschiedliche Haltungen. Wenn wir es schaffen, uns gegenseitig zuzuhören und auch immer wieder den Bezug zur eigenen Haltung herzustellen, dann können wir durch diese gehörten Geschichten einen persönlichen und letztlich auch einen gesellschaftlichen Perspektivwechsel schaffen. Dann ist eine gesellschaftliche Transformation möglich. Dafür ist das Erzählen ein besonders starkes Format, das ich gerne in meine Arbeit integrieren will.
Magst du eigentlich mal die Geschichte erzählen, wie du in diese Arbeit hineingewachsen bist?
Ich würde sagen, das ist ein Zusammenspiel aus verschiedenen Ebenen. Das Zuhören, das ich eben angesprochen hatte, spielt dabei auf jeden Fall eine große Rolle. Ich unterhalte mich gerne über verschiedene Themen und versuche dann, wirklich unvoreingenommen zuzuhören und „ganz von vorne“ zu verstehen.
Durch all diese Begegnungen und Erzählungen, die ich bisher erleben durfte, ist in mir der Wunsch entstanden, diese Erfahrungen auch in irgendeiner Form in mein Engagement einzubringen, und zwar möglichst so, dass ich auch davon leben kann. Die anthropologischen Themen sind also eine Ebene, genauso wie meine Liebe zu den großen Naturlandschaften, zu Bergen, Seen und Wäldern. Ich bin gerne dort in der Natur unterwegs, betrachte die Landschaften und stelle ihre Vielfalt dann auch in ein Verhältnis zur kulturellen Vielfalt, mit der wir in unseren Siedlungen und Städten konfrontiert sind.
Außerdem bin ich leidenschaftlicher Koch. Das Kochen und Essen schafft ja auch einen starken Bezug zu dem, was ich im wahrsten Sinn des Wortes in mich aufnehme. Ich „konsumiere“ Dinge ja nicht nur visuell durch Betrachten oder kognitiv, indem ich darüber spreche, sondern auch, indem ich sie esse.
Das alles ist in irgendeiner Form zu einem untrennbaren Ganzen miteinander verbunden und „soziale Gerechtigkeit“ ist einfach das Thema, in dem ich mich am ehesten mit diesem Ganzen verbunden fühle. So bin ich zur Bildungsarbeit und zum Eine Welt Forum gekommen.
Daniel Hoeckendorff
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