Die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit

„Erzählen ist an das Miteinander gebunden, ein Dialog“, sagt Prof. Dr. Kristin Wardetzky. Die heute 78-jährige ist Märchen- und Erzählforscherin sowie Erzählerin und Mitglied im Vorstand der Märchen-Stiftung Walter Kahn. Sie hat u. a. den Zertifikatskurs „Künstlerisches Erzählen“ an der UdK Berlin initiiert, den Verein „Erzählkunst e. V.“ gegründet, Symposien zum Erzählen in der kulturellen Bildung und Langzeit-Erzählprojekte in Schulen organisiert.

Seit Jahrzehnten bist du in der Erzählkunst aktiv, meist mit wissenschaftlichem Ansatz. In diesem Feld hast du  zweifellos eine große Vorbildfunktion für viele, die sich im deutschsprachigen Raum mit dem Erzählen auseinandersetzen. Umso mehr interessiert uns: Wie bist du eigentlich zum Erzählen gekommen? War das von Anfang an dein Ziel?

Nein, überhaupt nicht. Eigentlich bin ich erst durch die Wiedervereinigung mit dem freien mündlichen Erzählen in Kontakt gekommen. Allerdings hatte ich mich aber schon vorher intensiv mit Märchenforschung auseinandergesetzt. In der DDR habe ich am Kinder- und Jugendtheater in Berlin gearbeitet, aber nicht im künstlerischen Bereich, sondern in der Rezeptionsforschung. In einer eigenen Abteilung mit drei Mitarbeiterinnen und einer Sekretärin haben wir untersucht, wie Kinder auf das reagieren, was ihnen von erwachsenen Künstlern auf der Bühne präsentiert wird. Das waren zum Teil sehr aufwändige Untersuchungen zu den unterschiedlichsten Inszenierungen. In diesem Zusammenhang habe ich mich dann Mitte der 80er Jahre auch gefragt, welche Bedeutung Märchen eigentlich für Kinder in unserem heutigen Zeitalter haben – immerhin gehörten Märchen zum Inventar des Theaters, und die Kinder waren davon ziemlich fasziniert. 

Durch die Vermittlung eines Kollegen, der von meinen Märchenforschungen wusste, habe ich 1990  die damalige Vizepräsidentin der Europäischen Märchengesellschaft (EMG), Margerete Möckel, kennengelernt. 

Damals kannte ich weder die EMG noch Margarete Möckel. Aber als ich sie traf, war das gewissermaßen „Liebe auf den ersten Blick“. Eine wunderbare Frau, durch die ich überhaupt erst verstanden habe, was freies mündliches Erzählen eigentlich bedeutet. Mit ihr war ich dann bis zu ihrem Tod eng befreundet und habe sehr viel von ihr gelernt. Bei unserer ersten Begegnung habe ich sie gefragt, was sie denn macht, wenn sie erzählt. „Na, ich erzähl halt!“ – Hm, sie merkte wohl, dass ich damit nichts anfangen konnte. Und dann setzte sie sich vor ihren Ofen und erzählte den „Trommler“ von Grimm –  frei!, ohne Textbuch oder Manuskript!, wie ich es aus dem Theater kannte. Ja, und das war für mich tatsächlich ein Initialerlebnis.

In diesem Moment begriff ich, wieso man im mündlichen Erzählen die Wurzeln des Theaters sieht. Aus ihm hat sich ja das Theater entwickelt. Vor dem Theater haben bei den Griechen die Aoiden und Rhapsoden die großen Epen nicht dargestellt, sondern erzählt. Aus diesen Anfängen hat  sich dann das Theater di,e Literatur, die Philosophie und noch so viel mehr entwickelt.

In dem Moment war es für mich entschieden: Das muss ich weiterverfolgen!


Das Märchen hat dich also schon sehr lange begleitet, und es klingt so, als hätten Märchen in der DDR einen besonderen Stellenwert gehabt.

Ja, unbedingt. In der DDR war das Märchen als „Volksliteratur“ hoch geschätzt und war dementsprechend präsent. Ich hatte unter anderem mal darüber gearbeitet, wie die Mehrheit der DDR-Autoren in irgendeiner Weise auf Mythen und Märchen zurückgegriffen hatten – z.B.  Christa Wolf und Heiner Müller, ja selbst Brecht mit seiner „Antigone“.  Es gab großartige Nacherzählungen griechischer Mythen – z. B. von Franz Fühmann – eine Fundgrube!, und es gab eine Fülle von Märchenausgaben mit wunderbaren Illustrationen – auch aus osteuropäischen Verlagen. Es gab diverse Hörspiele und Schallplatten mit Märchen. Die Sprecher waren wirklich die besten Künstler des DDR-Theaters.

Es gab Märchen im Kindergarten, in der Schule, im Elternhaus, in Film und Fernsehen – einfach überall. Wenn die Bibliotheken literatursoziologische Untersuchungen durchgeführt und Statistiken ausgewertet haben, stand bei Kindern bis zum 10. Lebensjahr immer das Märchen an erster Stelle in der Beliebtheit.

Die Kinder haben das Märchen gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen. Und dadurch haben sich natürlich auch bestimmte Strukturen des Märchens, die Motive und Konfliktkonstellationen, aber auch dessen poetische Sprache intuitiv im Gedächtnis der  Kinder verankert und Spuren hinterlassen.


Und das konntest du dann durch deine Studien belegen?

Ja, tatsächlich. Gemeinsam mit meinen Kolleginnen haben wir überlegt, wie wir herausfinden könnten, was Kinder bewegt, wenn sie Märchen hören, sehen, lesen. Warum fanden sie denn diese alten Geschichten so toll?

Um es kurz zu machen: Zwischen 1986 und 88 schrieben auf unsere Anregung hin insgesamt 1.577 Kinder der zweiten, dritten und vierten Klassen innerhalb einer Schulstunde eine Geschichte nach einem knappen, märchenhaften Anfang, und zwar spontan, ohne Eingriffe der Lehrer*innen. Wir wollten keine korrigierten Texte, wir wollten authentische Texte. Und die bekamen wir: 1.577 Geschichten!

Als die ersten Briefumschläge bei uns eintrafen und wir die ersten Texte lasen, konnten wir kaum glauben, was wir da sahen. Das waren keine langweilige Nacherzählungen der Standardmärchen – im Gegenteil! Was für tollkühne Geschichten, mitunter bis zu 4 Seiten lang! Was für eine überbordende Phantasie, was für ein unkonventioneller Umgang mit tradierten Motiven, welche geradezu schlafwandlerische Sicherheit in der Verwendung von Grundmustern, und: was für poetische Formulierungen – das war einfach umwerfend. Es ist wirklich unglaublich, welche Erzählkompetenz und welches Sprachvermögen sich die Kinder durch die Omnipräsenz des Märchens aneignen konnten –  Grundschüler, die nie gelernt hatten, wie man ein Märchen schreibt!

Du hast also oft im Überlappungsbereich von Mythos und Logos, von Kunst und Wissenschaft gearbeitet. Hast du dieses Verhältnis als Spannungsfeld wahrgenommen?

Durchaus. Mythos und Logos sind zwei verschiedene Arten, die Welt zu verstehen. Die Wissenschaft versucht, mit Rationalität zu ergründen, ‚“was die Welt im Innersten zusammenhält“. In den Künsten dagegen spielt das, was wir subjektives Wahrnehmen und Empfinden nennen, was wir Fantasie und Imagination nennen, eine ganz dominante Rolle. Natürlich haben auch die Künste rationale Komponenten. Aber das Entscheidende ist eigentlich der individuelle, zutiefst persönliche Blick auf die Wirklichkeit mit all ihren Schönheiten, Abgründen, Herausforderungen und Utopien. Hier geht es nicht um ein kognitives, physikalisches, theoriegeleitetes Verständnis der Welt. In den Künsten bildet sich die Welt nicht 1:1 ab. Doch wissenschaftliche Theorien haben schon zum Ziel, ein Begriffssystem, Erklärungsmodelle und Hypothesen zu entwickeln, um hinter das empirisch Zugängliche zu kommen. In den Künsten dagegen ist das Geheimnis ein adäquates und wunderbares Mittel, die Welt auch auf eine ganz andere Weise zu sehen, die eben nicht rational bestimmt ist.

Das heißt übrigens nicht, dass Geschichten oder Mythen unwahr sind, sondern es bedeutet, dass man sich die darunterliegende Wahrheit selbst erschließen muss. Es ist eine Erkenntnis, die man selbst erringen muss, keine bereits gewonnene Erkenntnis, die man lediglich in das eigene kognitive Verständnis zu übernehmen braucht.

In unserer Arbeit recherchieren wir viel und stoßen fast zwangsläufig immer wieder auf Geschichten mit mythischem Kern, die aus dem Umfeld indigener Kulturen stammen, die oftmals auch in der heutigen Zeit mit einem mythischen Weltbild leben – das offenbar ziemlich gut funktioniert.

Vor den mythologischen Vorstellungen indigener Völker habe ich allerdings extremen Respekt. Können wir wirklich verstehen, in welchem Verhältnis zur Natur, in welchem Verhältnis sie zu Sonne, Mond, Sternen, Pflanzen, Steinen, Winden und Wolken gestanden haben? Sind wir dazu in der Lage?

In dem Punkt hadere ich oft mit mir. Diese Geschichten haben wirklich große Verführungskraft, und natürlich greife ich auch gern schnell zu. Aber dann frage ich mich: Verstehst du, was darin erzählt wird? Bist du überhaupt in der Lage, auch nur ansatzweise zu begreifen, was dort passiert, wenn eine Schildkröte über einen Stein kriecht? Was heißt das in dieser Kultur? Dann fällt ein Tropfen Wasser vom Baum und verändert das ganze Bild. Welche Bedeutung hat denn dieser Tropfen?

Sich die mythischen Weltbilder indigener Völker zu erschließen… Naja, das haben schon Größen wie Malinowski und Lévi-Strauss versucht. Viele andere sind daran gescheitert. Eine gewisse Demut im Umgang mit diesen Geschichten ist also auf jeden Fall angebracht.

Du hast dich also intensiv mit dem Spannungsfeld aus Mythos und Logos auseinandergesetzt und deine Ausführungen legen nahe, dass du immer versucht hast, dir mit der rationalen, wissenschaftlichen Denkweise die Welt zu erschließen. Ist das denn so?

Ja schon, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wenn ich diese alten Mythen und die antiken Tragödien lese, die ja auf den Mythen basieren, oder auch einfach einen schönen Märchenband, dann vibriert da etwas, das mit dem Logos gar nicht erfasst werden kann. Natürlich frage ich dann auch mit forschendem Interesse, was die Menschen wohl getrieben haben mag, sich solche Bilder und Konstellationen oder auch Figuren und Handlungen auszudenken. Was steckt eigentlich dahinter?
Aber bevor ich mir diese Fragen stelle, ist da die unerklärliche Faszination, sonst fände ich die Stoffe langweilig und würde mich auch nicht rational damit auseinandersetzen. Die Faszination ist gewissermaßen das Einfalltor – eben jenes Tor, das ich gerne öffnen würde, um zu erkennen, was sich dahinter verbirgt. Es ist die Faszination, die jene Neugierde antreibt, den Stoff zu lesen und noch mal zu lesen und wegzulegen und dann wieder zu lesen – und nochmal was Neues darin zu begreifen und dann auch die Sekundärliteratur zu befragen.

Neben den Ergebnissen ist auch die Qualität deiner wissenschaftlichen Arbeitsweise sehr bemerkenswert. Ist das in der DDR so ohne weiteres möglich gewesen?

Die Rezeptionsuntersuchungen zu den verschiedenen Inszenierungen haben uns oft unerwartete, verblüffende Aufschlüsse darüber gegeben, was die Kinder oder Jugendlichen mitnehmen aus dem Theater. Aber irgendwann haben wir uns dann gefragt: Wie kommen sie ins Theater hinein? Welche sozialen Erfahrungen, Erwartungen, Probleme bringen sie mit ins Theater? Und so haben wir begonnen, Interviews, also Einzelgespräche mit ihnen  zu führen. Und das wurde dann zum Vabanque-Spiel, weil  in diesen Interviews Dinge offensichtlich wurden, die überhaupt nicht ins Bild von der sorgenfreien Kindheit im Sozialismus passten.

Die Beschäftigung mit dem Märchen war ja jenseits des Politischen angesiedelt,  Märchen waren kein ideologisches Minenfeld, ja sie erfreuten sich großer Unterstützung durch die Kulturpolitik. In diesem Sinne gab es in diesem Bereich keine Schwierigkeiten, und wir konnten auf eine Weise arbeiten, wie man sie in der DDR vielleicht gar nicht für möglich gehalten hätte.

Schwierigkeiten bekam ich dann allerdings mit den Protokollen der Gespräche mit Erst- und Zweitklässlern.  Diese Interviews förderten Unglaubliches zutage. So kam eben nicht nur alles zur Sprache, was sie liebten und worüber sie sich freuten, sondern eben auch alle Probleme, Schwierigkeiten und Enttäuschungen bis hin zu Suizidgedanken. Das alles offenbarten diese Kinder so freimütig und ungebremst, dass uns manchmal buchstäblich der Atem stockte.

Was sich da vor uns ausbreitete, stand im scharfen Kontrast zum offiziell vermittelten glücklichen Kindheitsbild der DDR, und mir wurde klar: Das muss an die Öffentlichkeit gebracht werden!
Daraufhin habe ich eine Publikation vorbereitet, die abwechselnd beides enthielt: die Interviews mit den Kindern und eine Auswahl der von  ihnen erfundenen Märchen. Beide Materialien haben sich gewissermaßen gegenseitig interpretiert. Dafür habe ich dann einen Verlag gesucht und auch gefunden – das Verlagsgremium hat sich die Köpfe heiß geredet und wollte das Manuskript letztlich nur mit Zustimmung des Ministeriums für Volksbildung veröffentlichen. Die Bildungsministerin war damals Margot Honecker, und sie lehnte die Veröffentlichung ab. Damit war die Veröffentlichung auch in anderen DDR-Verlagen unmöglich geworden.

Als ich nach 1990 u. a. die Märchenstudie auch in Westdeutschland vorstellte, haben Kollegen überrascht, mitunter aber auch skeptisch reagiert. Sie meinten, Kindern im Alter von acht bis 10 Jahren könnten Texte von dieser Qualität unmöglich so geschrieben haben.

Im Ernst? Diese Erkenntnisse wurden weder von der Wissenschaftsgemeinde noch von der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen?

Das ist größtenteils untergegangen, ja. Meine Habilitationsarbeit, in der ich diese Märchentexte mit Hilfe statistischer Verfahren akribisch genau untersucht habe, ist zwar 1992 erschienen. Aber damals gab es ganz andere, zum Teil existentielle Probleme – sozial, wirtschaftlich, politisch. Wen hat damals interessiert, welche Forschungsergebnisse es zur Märchenrezeption von DDR-Kindern gab?

Allerdings gab es zwei Ausnahmen. Zum einen das Team um Siefried J. Schmidt von der Uni Siegen, das sich in den 80er Jahren  schwerpunktmäßig der Rezeptionsforschung widmete. In ihrem Periodikum druckten sie eine umfangreiche Darstellung meiner Untersuchung ab. Zum anderen hatte ich 1990 das Manuskript dem Direktor der Internationalen Jugendbibliothek (IJB) in München gegeben, Walter Scherf, der ja das große zweibändige  Märchenlexikon und andere Standardwerke zum Märchen herausgegeben hat. Scherf hat meine Arbeit in einer Rezension im Bayrischen Jahrbuch für Volkskunde sehr ausführlich besprochen und als bahnbrechend bezeichnet, weil darin zum ersten Mal durch Fakten und Zahlen belegt werden konnte, was bisher nur spekulativ behauptet wurde.

Was sind denn in der jüngsten Zeit die Schwerpunkte deiner Arbeit?

In den letzten Jahren geht es mir vor allem darum, in der Deutsch- und der Fremdsprachendidaktik Türen zu öffnen. Von 2005 bis 2007 hatte ich ja das erste Langzeitprojekt mit Erzählen an Schulen initiiert, dem andere Schulprojekte folgten. Das war am Anfang mit vielen Unsicherheiten verbunden –  schließlich war das zumindest damals für uns etwas völlig Neues. Mittlerweile wissen wir, welche positiven Auswirkungen das Erzählen bei den Kindern hat – in jeder Beziehung: Sie entspannen sich, sie hören anders und lange zu, sie begeistern sich für die Geschichten, und wenn sie diese wiedergeben, dann unterstützen sie sich gegenseitig, applaudieren einander und wollen MEHR!

Ich denke, das ist wie eine wunderbare Medizin, die man den Kindern wöchentlich verabreichen sollte, Deshalb kann ich nur immer und immer wieder appellieren, endlich mal über den herkömmlichen didaktischen Horizont hinaus zu denken. Das Erzählen sollte endlich ins Curriculum der Lehrer*innenausbildung aufgenommen werden und dann als reguläre Möglichkeit in den Unterricht, um Kinder lustvoll an Sprache heranzuführen und ihre Fähigkeit zur Imagination zu erweitern!

Angesichts der zahlreichen Hindernisse, denen du in deiner Laufbahn begegnet bist: Welche Zukunft würdest du dir für die Erzählkunst in Deutschland wünschen?

Zunächst einmal werden Erzähler*innen wahnsinnig schlecht bezahlt. Ich wünsche mir, dass das Erzählen als hoch dotiertes Vermögen angesehen wird. Eine Geschichte zu erzählen ist eine künstlerische Leistung, die entsprechend entlohnt werden muss. Das wünsche ich mir sehr.

Zum anderen finde ich den Austausch untereinander extrem wichtig – auch international! Erzählerinnen und Erzähler sind Einzelkämpfer. Um so wichtiger ist es, sich gegenseitig zu ergänzen, anzuregen, zu beflügeln, über die Grenzen der Sprache und der Kultur hinaus. Um eben auch andere Stile des Erzählens zu erleben und sich davon begeistern zu lassen. Erzählen ist ein derart diverses Feld. Da mischt sich Traditionelles mit Biografischem, Literarisches mit spontan Erfundenem – die Vielfalt der Formate ist hinreißend! Formen und Routinen des Austauschs zu finden  – das ist unverzichtbar.

Zweitens ist mir wichtig, dass im Rahmen der Erzählkunst die Quellenforschung und auch der Umgang mit Sekundärliteratur größere Beachtung erfährt. Ich meine damit gar nicht in erster Linie die rein rationale, wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern die Würdigung der Vielfalt einer Geschichte in unterschiedlichen Ausprägungen und unterschiedlichen Kulturen. Was sagt uns das denn, wenn wir mit einer Geschichte konfrontiert sind, die in 12 oder 18 verschiedenen Kulturen und Varianten vorkommt? Es geht also eher um eine gewisse Neugierde, das Umfeld der Geschichten zu erkunden. Dazu kommt dann meines Erachtens die Beschäftigung mit den kulturhistorischen Hintergründen jener Sammlungen, denen wir unsere Geschichte entnehmen. Was wissen wir z. B. über die Jahrhunderte alten hinreißenden persischen oder arabischen Quellen, denen wir unsere Geschichten entnehmen? Dazu gehört unter anderem auch die intensive Beschäftigung mit der griechischen Mythologie, denn aus ihr hat sich ein Großteil unserer europäischen Kultur entwickelt. Auch damit meine ich gar nicht die Auseinandersetzung mit komplizierten Interpretationsversuchen, sondern es geht mir um den Gewinn, ja die Freude, die man in der Auseinandersetzung mit bestimmten Werken der Sekundärliteratur haben kann, wenn man sich mit diesen Quellen so intensiv beschäftigt.

Nun, und dann wünsche ich mir natürlich, dass einer der großen Zweige der Kulturwissenschaften, die Narratologie, das freie mündlichen Erzählen endlich zur Kenntnis nimmt. Ich finde es wirklich empörend, dass in den theoretischen Standardwerken zum Erzählen bis heute das freie mündliche Erzählen nicht vorkommt. Diese Ignoranz macht mich wütend und hilflos. Was in den letzten Jahren dort aufgenommen wurde und sich großer Beachtung erfreut, ist das Alltägliche Erzählen, also Erzählen unter dem Label ‚Fakt‘ und ‚Fiktion‘. Hieran wird intensiv geforscht. Aber das Erzählen in unserem Sinne ist immer noch nicht in der Narratologie angekommen.

Dann endlich, was ich mir am allermeisten wünsche, ist, dass die Schule endlich ein anderes Verhältnis zum Erzählen findet. Die Erzählkunst sollte in der Ausbildung der Lehrer*innen und dann auch im Curriculum einen ganz anderen Stellenwert erhalten, als das bislang der Fall ist. Erzählen hat eben nicht nur etwas mit Sprachentwicklung zu tun, sondern auch mit Wahrnehmung, Phantasie, Resilienz, Empathie, der Fähigkeit zum Konfliktausgleich usw. Durch das Erzählen werden so viele Aspekte der kindlichen Entwicklung gefördert, dass es einfach unbegreiflich ist, wie schwierig es ist, Erzählen unverzichtbar im Curriculum zu verankern.

Zum Schluss: Mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen der Pandemie, mit denen Erzähler*innen zu kämpfen haben, bewundere ich ihre Widerstandsfähigkeit, ihr Engagement und ihr Durchhaltevermögen! Bei aller Kreativität, die durch die Digitalisierung auch im Bereich des Erzählens entfaltet wird, ist meine Sehnsucht nach Unmittelbarkeit übergroß!

Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf na­chhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lo­kalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.

Weiterführende Infos

 

Monografien:

  • Ins Tiefe springen, Gespräche mit Kindern. Berlin 1990.
  • Märchen – Lesarten von Kindern. Berlin/Bern et al. 1992.
  • mit Jürgen Kirschner: Kinder im Theater. Schriftenreihe der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung, Bd. 25, 1993.
  • Projekt Erzählen. Hohengehren 2007.
  • mit Christiane Weigel: Sprachlos? Erzählen im interkulturellen Kontext. Erfahrungen aus einer Grundschule. Hohengehren 2010.
  • Über die Lust an der narrativen Vermittlung von Sprache und Kultur. kopaed, München 2019, ISBN 978-3-86736-526-0.

 

Herausgeberin:

  • mit Helga Zitlsperger: Märchen in Unterricht und Erziehung heute. Hohengehren 1997.
  • mit Hubert Ivo: … aber spätere Tage sind als Zeugen am weisesten. Zur literarisch-ästhetischen Bildung im politischen Wandel. Berlin 1997.
  • mit Helge Gerndt: Die Kunst des Erzählens. Berlin/Brandenburg 2002.
  • mit Gundel Mattenklott: Metamorphosen des Märchens. Hohengehren 2005.
  • mit Nikola Hübsch: Zeit für Geschichten. Erzählen in der Kulturellen Bildung. Hohengehren 2017.

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