Trauerbegleitung

Wie? Erzählen? Das ist doch kein Beruf?! Wo und wie arbeitest du denn dann?
Die Kunst des Geschichtenerzählens geht auf die Anfänge menschlicher Kultur zurück. Mitunter kommt sie sehr subtil daher und wird im medienüberfluteten Alltag oft kaum wahrgenommen.
Dass sie deshalb keine Bedeutung hätte, ist ein gefährlicher Irrtum. Geschichten beflügeln unsere Imagination, nähren unser Verständnis von Sprache und können uns in Krisenzeiten Halt und Orientierung bieten.
In unserer Reihe The Storyteller’s Way lassen wir passionierte Erzähler*innen zu Wort kommen, die ihre Berufe kreativ zu Anwendungsfeldern der Erzählkunst umgestaltet und sie dadurch zur Entfaltung gebracht haben.

Alexandra Eyrich

Mein Weg zur professionellen Erzählerin hatte zwar einige Etappen, aber jenseits des Berufs waren die Geschichten irgendwie schon immer da. Ich kann mich nicht erinnern, dass das jemals anders gewesen wäre. Meine Eltern, besonders mein Vater, haben oft Märchen und Geschichten erzählt und die Märchen haben mich einfach fasziniert. In der Schule habe ich manchmal in die Randspalten meiner Mathehefte Märchenszenen gemalt. Dafür hatten Eltern und Lehrer nicht viel Verständnis, aber Märchen waren eindeutig mein Ding!
Später, als Freundinnen oder Schulkameradinnen Poster von irgendwelchen Boygroups in ihren Jugendzimmern aufhängten, hatte ich eben einen Märchenkalender an der Wand.

Ich bin auf ein musisches Gymnasium gegangen, Sprache und Musik standen dort merklich im Vordergrund, auch was die Rahmenangebote anging. Es gab z. B. Musicals und Opernproduktionen für Kinder und Jugendliche und als ich dann mit 13 Jahren bei der Kinderoper „Cinderella“ von Peter Maxwell Davis mitwirken sollte, gewann die ganze Sache an Fahrt.
Es war nämlich so, dass das Mädchen, das die Cinderella verkörpern sollte, ausgefallen war und ich sollte ihren Part übernehmen – und dachte erst nur: Ich krieg das Kleid! Die erste Probe war allerdings eine herbe Enttäuschung: Der Prinz war fast einen ganzen Kopf kleiner als ich. Das ging natürlich gar nicht! Dann habe ich die Rolle tauschen müssen und wurde zu einer der bösen Stiefschwestern.

Das war der erste große Schritt für mich, denn damals habe ich etwas Wesentliches begriffen: Ein schönes Kleid, professionelles Make up und eine entsprechende Frisur alleine sind keine Kunst, um auf der Bühne gut zu wirken. Doch die Figuren, die eine Dynamik entfesseln und die Handlung voranbringen, sind eben meist nicht die „Guten“! Mir wurde klar, dass ich als böse Stiefschwester etwas ganz anderes zeigen musste, die Dinge anders in der Hand habe. Das war aber zunächst leichter gesagt als getan, denn erstens hatte ich keinerlei Bühnenerfahrung und zweitens war ich damals sehr schüchtern, sobald es um Öffentlichkeit ging. Es dauerte, bis der Knoten platzte. Aber er platze!

Obwohl ich mit einer künstlerischen Ausbildung zwar sehr liebäugelte, machte ich nach der Schule zunächst eine Ausbildung zur Erzieherin – ich war noch nicht so weit. Aber mit 18 Jahren erfuhr ich durch Zufall, dass es tatsächlich eine Ausbildung zur Märchenerzählerin gab. Ich wusste sofort: Das will ich machen – egal wie. Ein Vorwand war schnell bei der Hand: Im Rahmen der Ausbildung zur Erzieherin war das Erzählen im Beruf ja sehr naheliegend. Die Ausbildung zur Märchenerzählerin war damals natürlich nicht mit heutigen Erzählausbildungen vergleichbar, aber sie war für mich eine gute Grundlage und fütterte vor allen Dingen mein künstlerisches Interesse, mich in diesem Bereich zu entwickeln.

Schauspiel, Musical, Tanz und Moderation wurden zwar auch mehr und mehr zu echten „Steckenpferden“, aber die Erzählkunst bildete für mich etwas viel Größeres, Umfassenderes ab. Ich kann das genießen, als Schauspielerin in eine Rolle zu schlüpfen und da drin zu bleiben. Aber als Erzählerin decke ich das ganze Spektrum ab, wechsle die Rollen und halte darüber hinaus den Spannungsbogen, verfolge den roten Faden. Es ist diese riesige Bandbreite, die mich so sehr fasziniert und die ich auch dann von den Akteuren erwarte, wenn ich selbst einmal im Zuschauerraum sitze. Ich will staunen können, und nicht das Gefühl haben, an etwas Beliebigem teilzuhaben, das ich ohne Weiteres auch selbst könnte. Es geht für mich dabei auch immer um Technik und Handwerk, in dessen Genuss ich kommen will. Und ich finde, da gibt die Erzählkunst eine Menge her.

Von der Kita in die Leichenhalle?

Berufsbegleitend zu meinem damaligen Erzieherberuf habe ich ein Studium zur Fachberatung Soziale Kompetenz tba HPG (Psychotherapie) absolviert mit meinen damals gewählten zwei Schwerpunkten: Kinder und Jugendliche und Paar- und Sexualtherapie. Schließlich brauchte ich ein 4-monatiges Praktikum. Ich wollte mich den familiären Themen Scheidung, Trennung, Abschied widmen – und weil in meinen Wunschpraxen kein Platz mehr frei war, landete ich im Hospiz! Ich hatte überhaupt keine Affinität zu diesem Thema, eher im Gegenteil, schließlich bin ich dem Leben sehr zugewandt! Aber ich brauchte eben einen Stempel für mein Studienheft.

Das war dann der berühmte Stein auf dem Weg, den man aufhebt, genauer anschaut und man merkt: Ich kann das! Ich habe die Nerven dazu und kann die Emotionen aushalten. Das ist einfach Teil der Arbeit im Hospiz: Du begleitest einen Menschen, bis er stirbt. Meine damalige Mentorin innerhalb dieser Arbeit hat mir irgendwann vorgeschlagen, in die Trauerarbeit einzusteigen, denn nach dem Tod eines Menschen haben dessen Angehörige den schwierigen Prozess der Trauer vor sich, um ihren eigenen Weg zurück ins Leben finden zu können. Das ist ein gravierender Unterschied! Und genau das wurde meine Mission – und ist es bis heute.

Ich machte auch ein Praktikum bei einem Bestatter und das sorgte in meinem Umfeld manchmal für erstaunte Fragen, wie ich denn von der Kindertagesstätte in die Leichenhalle käme. Tatsächlich bin ich in diesem Bestattungsinstitut mit allem in Kontakt gekommen: Von der hygienischen Versorgung über Traueranzeigen tippen bis hin zu Trauerreden halten. Mit letzterem habe ich mich immer intensiver beschäftigt: Ich empfand es als einen wichtigen Moment, den Angehörigen diese letzte Begegnung mit dem Verstorbenen zu ermöglichen; ohnehin war ich bereits darin geübt, mit Worten war ich umzugehen.

Irgendwann lag es nahe, die Dinge irgendwann miteinander zu verknüpfen und so fand die Erzählkunst ihren Weg in die Sterbe- und Trauerbegleitung. Mittlerweile bin ich seit drei Jahren als Dozentin für Trauerpsychologie für angehende Bestatter tätig und habe eine Trauerinitiative für Familien gegründet, die bereits an zwei Standorten aktiv ist. Das hatte ich gar nicht so geplant. Eigentlich wollte ich ja nur meine Arbeit gut machen und irgendwie auch einen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Ich hätte nie an die bis heute bestehende Größenordnung gedacht!

Arbeit mit Trauernden

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Geschichten bzw. das Erzählen in der Sterbe- und Trauerbegleitung eine sehr gute Kombi abgeben. Aber du musst natürlich wissen, was du tust und warum! Ich würde ganz sicher nicht einfach in ein Hospiz gehen, um dort Geschichten über „Sterben, Tod und Trauer“ zu erzählen.

Wenn Kinder und Jugendliche lebenslimitierte Diagnosen haben, ist eine Erzählerin, die mit Klangschale und hauchend flüsternden Tönen gefühlt schon mal den Tod einläutet, meines Erachtens eher kontraproduktiv. Ich begleite Sterbende und Trauernde, aber keine Toten. Ich erzähle für lebendige Menschen.

Wenn ich mit meiner Arbeit den Trauerprozess unterstützen will, dann muss ich die Situation kennen. Ich muss wissen, ob es sich um eine lange Krankheit handelt, um einen Unfall oder gar um einen Mordfall. War der Verstorbene jung oder alt, männlich oder weiblich? Wie ist das Sozialgefüge der Hinterbliebenen? Welchen kulturellen Hintergrund haben die Menschen, die ich begleite? Wo stehen sie gerade in ihrem Trauerprozess? Trauernde haben genug schlaflose Nächte, und wenn ich mit ihnen arbeite, sollte ich wissen, was ich tue und nicht irgendwelche gut gemeinten Experimente machen. Danach richtet sich letztlich auch meine Auswahl der Märchen- und Geschichtenstoffe.

Menschen trauern unterschiedlich.
Da gibt es jene, die ganz viel nachdenken. Die suchen Orientierung, wollen begreifen und verstehen.
Dann gibt es Menschen, die im Trauerprozess sehr emotional sind, und damit meine ich nicht nur Tränen, sondern die gesamte Bandbreite: Manchmal Wut, manchmal Scham (z. B. bei Suizid), und auch Erleichterung. Es ist ja nicht so, dass nur „die Guten“ sterben…
Dann sind da die Macher. Die müssen handeln, um zu überwinden. Auch hier findest du das ganze Spektrum: Das Haus putzen, regelmäßig zum Friedhof gehen und Blumen aufstellen, das Lieblingsessen des Verstorbenen kochen oder seine Lieblings-Urlaubsorte aufsuchen, bis hin zu Party machen. Jeder Mensch trauert anders.
Und schließlich gibt es die Taktik des Vermeidens und Verdrängens. Darüber machen sich viele Leute Sorgen, aber auch das Verdrängen kann anfangs eine völlig legitime Strategie sein, die man Trauernden zugestehen sollte.

Mit Märchen und Geschichten Menschen erreichen

Wenn ich also weiß, in welcher Situation sich die Trauernden befinden, kann ich Märchen und Geschichten auswählen, mit deren Bildern und Metaphern wir dann gemeinsam arbeiten können.
Zum Beispiel „Schneewittchen“: Sie liegt im Glassarg und die Zwerge sitzen drum herum und weinen und sagen: „Wir können sie doch jetzt nicht in die dunkle Erde versenken.“ Abschied nehmen ist schwer – und diese Szene ist eine starke Metapher von den Möglichkeiten und Chancen einer offenen Aufbahrung und Abschiednahme.

Ein anderes Bild ist der Apfel mit seinen zwei Hälften: Die rote Hälfte ist vergiftet, die andere ist genießbar. Was passiert, wenn wir das auf den Trauerprozess oder das ganze Leben übertragen? Was ist darin vergiftet und was ist genießbar? Ich bediene mich der Bilder aus den Märchen und helfe den Trauernden, sie in die je eigene Realität zu holen. Das verstehen schon ganz kleine Kinder, wenn ich meine Sprache entsprechend anpasse.
In dieser Art gibt es unzählige Motive und Möglichkeiten: Vom König, der sich eine neue Frau nimmt, bis zum Eisernen Heinrich mit seinen drei eisernen Banden ums Herz, damit es vor Traurigkeit nicht zerspringt.

Das waren jetzt alles Beispiele aus Grimmschen Märchen, mit denen ich tatsächlich oft und gerne arbeite. Natürlich könnten das auch Andersens Kunstmärchen sein oder Volksmärchen aus anderen Kulturen oder was ganz anderes. Aber Grimms Märchen sind eben sehr bekannt und bieten eine gewisse Klarheit und Übersicht.

Erzählkunst und Digitalisierung

Das Erzählen ist nun eine sehr alte Kunstform und ich bin wirklich gespannt, wie es sich in der Zukunft entwickeln wird. Vielleicht hat die Coronakrise und der damit verbundene Schub in der Digitalisierung einen Blick in die Zukunft ermöglicht, aber ich bin mir da nicht so sicher.
Es war eine Phase, die stark von Experimenten geprägt war – und nicht alles, was im Netz zu finden war, würde ich als gelungen bezeichnen.

Wenn ich mich als Erzählerin in die Materie einarbeite und entsprechende Qualität abliefere, spricht ja nichts gegen digitale Formate – es ist einfach etwas völlig anderes! Ich weiß nicht, wie die Generationen nach uns damit umgehen werden. Noch kriegen sie die Begeisterung für den Umgang mit Sprache, für Geschichten, für das gesprochene Wort, die Nähe, den direkten Blickkontakt und die Lebendigkeit innerer Bilder ja genauso „vererbt“ wie wir von denen, die vor uns da waren…

Ich wünsche allen Erzähler*innen und auch mir selber jedenfalls immer wieder die Entscheidung dahingehend, Unterhaltung mit Haltung anzubieten und aufrecht zu erhalten.

Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf na­chhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lo­kalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.

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