Gehirngeschichten

Ihr könnt mir viel erzählen
Wer kann schon sagen, wann wir Menschen gelernt haben, mit dem Feuer umzugehen? Die Spur verliert sich irgendwo im Dunkel der Geschichte. Sicher ist, dass Feuerstellen traditionell Versammlungsorte sind. Was für ein unglaubliches Ereignis muss das gewesen sein, plötzlich Licht, Wärme und Geselligkeit in der Dunkelheit und Kälte zu genießen! Heute mag das Lagerfeuer nicht mehr lebensnotwendig sein, aber es hat nichts von seiner Faszination verloren. Immer noch versammeln wir uns im Kreis, schauen in die tanzenden Flammen und erzählen uns Geschichten.
Doch die Welt hat sich verändert. Der direkte Kontakt mit der beseelten Natur ist heute nicht mehr die einzige Quelle unserer Erkenntnisse; wir genießen auch die Vorzüge der Wissenschaft. Doch woher auch immer wir unsere Erkenntnisse beziehen, wir Menschen geraten leicht in Verwirrung, und welche Antworten wir bekommen, hängt damit zusammen, welche Fragen wir stellen. Das trifft auch auf die wissenschaftliche Arbeitsweise zu. Nun bin ich zwar kein Wissenschaftsskeptiker, aber wenn ich in der renommierten Zeitschrift „Science“ eine Studie finde, in der bewiesen wird, dass Feuerschein zur Entwicklung von Erzählkunst geführt hat, frage ich mich dann doch, ob es wirklich keine besseren Ideen zur Verwendung von Forschungsgeldern gab.
Immerhin ist nun wissenschaftlich bewiesen, dass unser Verein eine der Erzählkunst förderliche Umgebung schafft. Aber wie gesagt: Ich bin kein Wissenschaftsskeptiker – dafür bin ich viel zu neugierig. Schließlich kommen in der Auseinandersetzung mit der Erzählkunst auch immer wieder Fragen auf, die ohne die Hilfe der Wissenschaft mit ziemlich vagen Vermutungen beantwortet würden. Oder auch einfach gar nicht. Zum Beispiel diese hier:
Die Einsichten der Neurowissenschaften
Was passiert eigentlich in unserem Kopf, wenn uns jemand Geschichten erzählt?
Mit solchen und ähnlichen Fragen befasst sich ein bestimmter Zweig der Neurowissenschaften, nämlich die Hirnforschung. Das ist ein relativ junger Forschungszweig, der auf Biologie, Chemie und Physik beruht und im weitesten Sinne „geistige Phänomene“ untersucht. Erforscht wird beispielsweise, wie die kognitive Informationsverarbeitung funktioniert, was im Gehirn bei emotionalen Reaktionen passiert oder wie das menschliche Bewusstsein aufgebaut ist.
Wahrscheinlich haben wir irgendwann mal gelernt, dass die linke Gehirnhälfte für logisch-analytische Aufgaben zuständig ist und wir mit der rechten Gehirnhälfte kreativ-künstlerische Dinge tun. Solche und ähnliche Vereinfachungen sind dann meist das, was aus den Laboren der Hirnforschung in unseren Alltag hineintröpfelt.
Denn das Modell der beiden Hirnhälften ist zwar nicht falsch, aber die Wirklichkeit ist dann doch sehr viel komplizierter: Im Gehirn ist eine schier unfassbare Zahl an Nervenzellen (Neuronen) aktiv, die Signale mit Hilfe elektrischer Impulse übermitteln. Mit entsprechendem technischen Aufwand können diese Impulse gemessen, lokalisiert und visualisiert werden. Man kann also ziemlich genau erkennen, was in welcher Gehirnregion passiert, wenn wir Schlitten fahren, eine Suppe würzen und abschmecken, einer Geschichte zuhören oder schlafen.
Die Neurowissenschaften setzen sich auch schon seit längerem mit der Verarbeitung von Sprache auseinander. Doch obwohl Geschichten in unserem Alltag eine wesentliche Rolle spielen, wurden „Narrationen“ (also Erzählungen im weitesten Sinne) erst vor Kurzem auf die Forschungs-Wunschliste gesetzt.
Wie das Gehirn mit Geschichten umgeht
Bereits die ersten Versuche führten zu erstaunlichen Erkenntnissen: Eigentlich hatte man angenommen, dass beim Geschichtenhören jene Gehirnregionen aktiv sind, die sich mit der Verarbeitung von Sprache beschäftigen. Das stimmte zwar auch, aber das Verstehen der Sprache war bei weitem nicht die einzige Aktivität!
Eine lebendig und ausdrucksstark erzählte Handlung aktiviert nämlich bei den Zuhörenden jeweils jene Gehirnregionen, die zum Ausführen ebendieser Handlung benötigt würden, sogenannte Spiegelneuronen werden aktiv. Wir verarbeiten also nicht einfach nur Worte und Sätze, sondern wir erleben gewissermaßen live, was in der Geschichte passiert. Wir können sehen, was beschrieben wird, und sogar fühlen, was die Charaktere fühlen. Dieses Phänomen wird als „mentale Simulation“ bezeichnet. Dass Geschichten innere Bilder erwecken, ist also nicht bloß eine nette Redensart, sondern lässt sich tatsächlich neurologisch darstellen.
Die Wissenschaft kann dem Mysterium einer Blume nie etwas wegnehmen, sondern nur etwas hinzufügen.
Richard Feynmann
Beim diesem geistigen „Leerlauf“ ist eine Gruppe von Gehirnregionen aktiv, die bezeichnenderweise default mode network genannt werden. Wenn wir reden, konzentriert zuhören oder irgendetwas anderes machen, ist dieses Leerlaufnetzwerk nicht aktiv – es sei denn, wir verarbeiten Geschichten!
Das Begreifen und Verarbeiten von Geschichten scheint also mit dem vermeintlichen „Leerlaufnetzwerk“ in engerem Zusammenhang zu stehen als bisher angenommen.
C. G. Jung hatte seinerzeit erklärt, Märchen und Träume seien verwandt, weil sie die gleiche Bildsprache sprechen. Heute ist die Hirnforschung auf dem besten Weg, diesen oft zitierten Ausspruch neurologisch nachzuweisen.
Wie Geschichten Lernprozesse unterstützen
Inzwischen wissen wir also, dass Geschichten nicht nur den Intellekt ansprechen, sondern auch innere Bilder erwecken und mentale Simulationen anstoßen. Das spielt vor allem in Lernprozessen eine wichtige Rolle. Der Hirnforscher und Gründer der „Akademie für Potenzialentfaltung“ Gerald Hüther erklärt, dass Lernprozesse immer durch ein Subjekt organisiert werden: „Als Zuhörer einer Erzählung bin ich immer Subjekt, weil ich die Erzählung rezipiere, mir meine Gedanken dazu mache und sie an meine subjektiven Vorstellungen anbinde. Auch deshalb kann man sich viel mehr merken – man hat es ja selbst konstruiert.“
Hüther zufolge können wir eigentlich nur dann etwas Neues lernen, wenn wir das Neue an etwas Bekanntes anhängen. Das funktioniert natürlich umso besser, je mehr Anknüpfungspunkte es gibt. Das Neue muss also erlebbar sein, und zwar über möglichst viele sensorische Kanäle wie sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen. Wenn das gerade nicht machbar ist, können wir immer noch eine Geschichte erzählen, in deren Rahmen wir viele Anküpfungspunkte an bereits vorhandene Gedächtnisinhalte liefern.
Wir denken sehr gerne in Bildern, denn sie sind nicht nur kognitiv sondern auch emotional reichhaltiger. Und die sprachliche Entsprechung eines Bildes ist die Erzählung einer Geschichte.
Gerald Hüther
Das macht Geschichten jedem Fachvortrag überlegen, mag er noch so informativ sein. Denn nackten Fakten fehlt es an dauerhafter Wirkung, die eine zusammenhängende Geschichte hat, die auch unsere Emotionen und Sinne erweckt. Wohl gemerkt: erweckt, nicht nur anspricht. Die Kunst des freien mündlichen Erzählens will also gelernt sein…
Magie und Geschichten
Wer die Magie erzählter Geschichten übrigens auch sehr zu schätzen weiß, sind (nunja…) Magier wie zum Beispiel Jamy Ian Swiss. Der US-Amerikaner hat sich mit der Rolle des Erzählens in der Magie beschäftigt und erklärt, dass jeder magische Trick im Grunde eine Geschichte ist, auch wenn sie nicht mit Worten erzählt wird.
Im neurobiologischen Fachjargon bezeichnet man das Herzstück einer starken Magie als „Erfahrung einer kognitiven Dissonanz“. Swiss konfrontiert sein Publikum mit dem sichtbaren Beweis einer visuellen Erfahrung, die Zuschauende intellektuell als unmöglich einstufen. Der erfahrene Zauberkünstler weiß aber auch, dass eben diese Erfahrung auch zu Frustration und Ärger führen kann. Das äußert sich dann in Zwischenrufen oder öffentlichen (und meist falschen) Erklärungen, wie der „Trick“ funktioniert hat.
Genau deshalb erzählt sein Berufskollege Whit Haydn gerne Geschichten: Er will damit keine Erklärung für das Unmögliche anbieten, sondern die Emotionen des Publikums wecken, damit sie die Erfahrung des Wunderbaren genießen können.
Um es knallhart zu sagen: Niemand mag sich gerne verarscht fühlen. Haydn sagt das allerdings nicht so, sondern anders: „Das Schwert der Magie wird verhüllt durch den Mantel der Geschichte“.
Dass unsere Wahrnehmung sehr dehnbar ist, weiß auch David Abram. Der bekannte US-amerikanische Ökologe und Philosoph hatte ursprünglich Wahrnehmungspsychologie studiert – und dieses Studium mit Auftritten als Taschenspieler finanziert! Gegen Ende einer Europareise forschte er in London an den Zusammenhängen zwischen Magie und Medizin.
Genau genommen ging es ihm um die Frage, „ob sich die Zauberei für die Psychotherapie als Mittel einsetzen ließe, um mit Patienten zu kommunizieren, die die klinische Therapie nicht mehr erreichte.“Tatsächlich waren diese Versuche erfolgreich – und die in der therapeutischen Praxis bekannte „narrative Arbeit“ war um einen Zweig reicher geworden.
Geschichten leben länger als Menschen
Empathie ist mitunter harte Arbeit. Wie war das gleich nochmal? Wir können eigentlich nur dann etwas Neues lernen, wenn es uns gelingt, das Neue an etwas Bekanntes anzuknüpfen. Die Anküpfungspunkte mögen nicht immer leicht zu finden sein, aber die Arbeit lohnt sich garantiert, denn bei sachgerechter Pflege leben Geschichten deutlich länger als Menschen.
Gerald Hüther drückt das so aus: „Die ganz bedeutenden Geschichten, die wir im Leben irgendwann einmal gelesen oder gehört haben, lesen oder hören wir ja auch nach 20 oder 30 Jahren immer noch gerne auf die gleiche Weise wieder. Das hat etwas mit Selbstbestätigung und Selbstvergewisserung zu tun.“
Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf nachhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lokalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.
Weiterführende Infos
Die gute Nachricht vorab: Wer sich nicht durch wissenschaftliche Paper quälen mag, darf sich bei Fritz Breithaupt, Professor für Kognitionswissenschaften bedanken. Im Suhrkamp Verlag ist vor kurzem sein Buch „Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen“ erschienen.
- Martinez-Conde S, Alexander RG, Blum D, Britton N, Lipska BK, Quirk GJ, Swiss JI, Willems RM, Macknik SL. The Storytelling Brain: How Neuroscience Stories Help Bridge the Gap between Research and Society. J Neurosci. 2019 Oct 16;39(42):8285-8290. doi: 10.1523/JNEUROSCI.1180-19.2019. PMID: 31619498; PMCID: PMC6794920.
- Chow HM, Mar RA, Xu Y, Liu S, Wagage S, Braun AR. Embodied comprehension of stories: interactions between language regions and modality-specific neural systems. J Cogn Neurosci. 2014 Feb;26(2):279-95. doi: 10.1162/jocn_a_00487. Epub 2013 Sep 18. PMID: 24047383.
- Yuan Y, Major-Girardin J, Brown S. Storytelling Is Intrinsically Mentalistic: A Functional Magnetic Resonance Imaging Study of Narrative Production across Modalities. J Cogn Neurosci. 2018 Sep;30(9):1298-1314. doi: 10.1162/jocn_a_01294. Epub 2018 Jun 19. PMID: 29916789.
- Lerner Y, Honey CJ, Silbert LJ, Hasson U. Topographic mapping of a hierarchy of temporal receptive windows using a narrated story. J Neurosci. 2011 Feb 23;31(8):2906-15. doi: 10.1523/JNEUROSCI.3684-10.2011. PMID: 21414912; PMCID: PMC3089381.
- Suzuki WA, Feliú-Mójer MI, Hasson U, Yehuda R, Zarate JM. Dialogues: The Science and Power of Storytelling. J Neurosci. 2018 Oct 31;38(44):9468-9470. doi: 10.1523/JNEUROSCI.1942-18.2018. PMID: 30381438; PMCID: PMC6209845.
- Chaitin J (2003) Narratives and story-telling. In: Beyond intractability. Burgess G, Burgess H (eds). Conflict information consortium, University ofColorado, Boulder. Available at http://www.beyondintractability.org/essay/narratives.
- Wiessner PW. Embers of society: Firelight talk among the Ju/’hoansi Bushmen. Proc Natl Acad Sci U S A. 2014 Sep 30;111(39):14027-35. doi: 10.1073/pnas.1404212111. Epub 2014 Sep 22. PMID: 25246574; PMCID: PMC4191796.
- „Wir denken sehr gerne in Bildern“ – Was Storytelling in unserem Gehirn bewirkt. Interview mit Gerald Hüther, abgerufen am 14.12.2022 unter https://www.newsaktuell.de/blog/was-geschichten-im-gehirn-bewirken/