Erzählen oder Schweigen?

Geschichten, die wir erzählen, haben oftmals weite Reisen durch Zeit und Raum hinter sich. Manchmal sind sie auch auf den Stimmen der Erzählenden durch verschiedene Zivilisationen und Kulturen gereist. Immer wieder wurden sie verändert und angepasst. Und manchmal auch missbraucht.

„Kulturelle Aneignung“ ist ein Begriff, der immer wieder im Zentrum aufgeheizter öffentlicher Debatten steht. Das ist insofern erstaunlich, als dass dieser Begriff reichlich schwammig ist und man darunter alles Mögliche verstehen kann. Man kann sich auch dumm stellen und gar nichts verstehen. Oder mit pauschalen Forderungen um sich werfen.
Wer aber ein dringendes Anliegen hat, vergrößert die Chancen auf Gehör, Verständnis und Lösungsfindung erheblich, wenn es in einer präzisen Sprache geäußert wird. Das sollte spätestens seit Marshal Rosenberg und dem von ihm gelehrten Modell der „Gewaltfreien Kommunikation“ (GfK) in der breiten Öffentlichkeit bekannt sein.

In diesem Fall ist das nicht so. Man muss sich mit dem Thema „Kulturelle Aneignung“ schon intensiver auseinandersetzen, um verstehen zu können, was genau das Anliegen ist. Der Publizist und Popkritiker Jens Balzer beschäftigt sich mit Musik und ihm zufolge geht es im Kern um den Kampf gegen ungleiche Machtverhältnisse und die daraus resultierenden Formen und Möglichkeiten der Ausbeutung.
Dabei müsse klar sein, so Balzer, dass jede Kultur schon immer auf Aneignung von Einflüssen aus anderen Kulturen beruhe. Die Frage sei, ob der Aneignung ein Ausbeutungsverhältnis zugrunde liege.

Die Dynamik der Erzählkunst

Was bedeutet das für die Erzählkunst? Machen wir uns der kulturellen Aneignung schuldig, wenn wir Geschichten aus anderen Kulturen erzählen?

Bevor wir uns mit dieser Frage auseinandersetzen können, ist es wichtig, einen zentralen Aspekt des Geschichtenerzählens zu verstehen: Wenn Geschichten nicht erzählt werden, sterben sie. Wenn eine Geschichte aufgeschrieben wird, ist sie zwar „gesichert“, aber irgendwie auch „zementiert“. Während sich Kultur und Sprache entwickeln, bleibt die Geschichte gewissermaßen zurück.

Ein prominentes Beispiel war vor einigen Jahren Astrid Lindgrens bekanntes Kinderbuch „Pippi in Taka-Tuka-Land“. Das Buch erschien 1948 und stellte Pippis Vater als „Negerkönig“ vor. Lediglich 22 Jahre später, also 1970, erklärte Lindgren in einem schwedischen Interview: „Heutzutage hätte ich Pippis Papa nie zu einem Negerkönig gemacht.“ Inzwischen liegt auch das Interview über 50 Jahre zurück, die Autorin ist längt gestorben – und die Bücher teilweise noch immer im Umlauf.

Verglichen damit ist Erzählkunst viel dynamischer und passt die Geschichten ihrem jeweiligen Umfeld geschmeidig an. Dadurch können mündlich tradierte Geschichten sehr lange überleben und stets in einer angemessenen symbolischen Sprache weitergegeben werden. Der Sprachforscher Walter Ong hat dieses Phänomen mit dem gigantischen Fachausdruck „homöostatische Dimension von Oralität“ beschrieben. Das Erzählen ist also immer auch ein künstlerischer Prozess der Veränderung.

Das Eigene und das Fremde

Das heißt allerdings auch, dass der Ursprung einer Geschichte oft nicht mit Sicherheit nachvollzogen werden kann. Außerdem sind fast immer verschiedene Versionen einer Geschichte im Umlauf, mitunter auch in unterschiedlichen Kulturen. Manchmal lassen sich die Wanderungsbewegungen von Geschichten nachvollziehen. Und manchmal entstehen tatsächlich sehr ähnliche Geschichten völlig unabhängig voneinander in verschiedenen Kulturen. Wer hier tiefer eintauchen will, findet im facettenreichen Blog „Multicolored Diary“ der ungarischen Erzählerin Csenge Zalka eine großartige Inspiration.

Die Angelegenheit erscheint nochmals in einem ganz neuen Licht, wenn wir uns mit Mythen auseinandersetzen, denn Mythen haben keinen Autor. In vielen indigenen Kulturen ist die Mythologie ein zentraler Aspekt der kulturellen und spirituellen Identität und die Mythen gelten als heilig.

Wer aber die Mythen aus verschiedenen Kulturen und Zeitaltern miteinander vergleicht, wird verblüffende Gemeinsamkeiten in Form universeller menschlicher Motive finden, die lediglich auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck kommen. Diese Arbeit leistete der Mythenforscher Joseph Campbell. Vor allem in seinem grandiosen 4-bändigen Werk „Die Masken Gottes“ wird deutlich, wie dünn die kulturelle Schicht der Mythen tatsächlich ist, wie wenig uns Menschen eigentlich trennt, wie viel uns verbindet und wie fragwürdig die Idee ist, Grenzen zwischen Kulturen zu ziehen oder zu verwischen.

Erzählen oder Schweigen?

Im Verlauf der Menschheitsgeschichte wurden allerdings viele Grenzen gezogen, verwischt und wieder neu gezogen – was oft mit Kriegen verbunden war. Was aber in der Kolonialzeit von den europäischen Mächten ausging, hatte nochmal eine ganz andere Dimension und Qualität. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass die westliche Zivilisation auf einem grotesken Nebeneinander von Menschenrechten, Völkermord, Humanismus, Ausbeutung, Freiheit und Unterdrückung beruht.
Wenn wir uns als erwachsene Menschen die Frage stellen, wie wir in dieser Kakophonie ein verantwortungsbewusstes Leben führen können, werden wir garantiert keine einfache Antwort finden.

Damit sollte spätestens jetzt klar werden: Wer vorsichtshalber gar keine Geschichten aus „anderen“ Kulturen erzählt, zieht sich nicht gerade elegant aus der Affäre. Schweigen ist keine angemessene Antwort auf das Anliegen, das hinter dem Vorwurf der kulturellen Aneignung steht. Von professionellen Erzähler*innen darf man durchaus erwarten, dass sie akut bedrohte Kulturen nicht aus Scham, die als Respekt getarnt wird, totschweigen.
Vielmehr sollten sie in der Lage sein, einen Rahmen zu gestalten, in dem jenseits von Ausbeutungsverhältnissen Empfindungen von Schönheit, Kostbarkeit und Verbundenheit wachgerufen werden. Diese Empfindungen haben eine enorme Transformationskraft und können Heilungsprozesse in Gang setzen.

Der Lösungsansatz des Publizisten Jens Balzer klingt recht pragmatisch: „Eigentlich müsste man einen Imperativ formulieren: Appropriiere! Eignet euch an, was euch in die Quere kommt – aber tut es respektvoll. Oder tut es so, dass die unterschiedlichen angeeigneten Kulturen darin sichtbar bleiben und eure Perspektiven darauf deutlich sind, dass ihr verstanden habt, wo das politisch-historisch herkommt.“

Beispiele aus der Praxis

„Ich will die Verbindungen zwischen traditionellen Geschichten und populärer Kultur entdecken und formen, so dass man erkennen kann, wie die traditionellen Geschichten in moderner Form noch immer in uns lebendig sind. In gewisser Weise ist das eine Rückverbindung“, sagt die ungarische Erzählerin Csenge Zalka. Die Ähnlichkeit zu Balzers Kernaussage ist unverkennbar.

Der spanische Akitivist Grian A. Cutanda hat mit „The Earth Stories Collection“ ein monumentales Erzählprojekt gestartet. Cutanda verortet den Kern der gegenwärtigen Krisen in unserem mechanistischen, reduktionistischen Weltbild und sucht nach Wegen, dieses holistischer zu gestalten. Im Rahmen seiner Dissertation in Erziehungswissenschaften weist er nach, dass bestimmte mythische Geschichten (hauptsächlich solche aus oralen indigenen Kulturen) in der Lage sind, unser Weltbild zu verändern. Inspiriert durch Joseph Campbells Idee einer „planetaren Mythologie“ identifiziert er die Erdcharta als geeigneten Ordnungsrahmen und sucht nun auf der ganzen Welt nach mythischen Geschichten, mit denen die ethischen Prinzipien der Erdcharta illustriert werden können.
In diesem Rahmen setzt sich Cutanda auch mit der Frage der kulturellen Aneignung auseinander und erarbeitet eine ganze Reihe von Fragen, die uns dabei helfen können, respektvoll mit Geschichten aus anderen Kulturen umzugehen. Alle Geschichten veröffentlicht er nur mit Erlaubnis und lizenziert sie mit der Creative Commons-Lizenz.

In Deutschland startet voraussichtlich im Juli ein Projekt mit dem Titel „Cultural Awareness and Storytelling“ über die Storybox München. Die Initiatorin Momo Heiß erklärt: „Wir betrachten dabei den Weg, den die Geschichten über kulturelle Grenzen hinweg gehen und gegangen sind.“ Heiß geht die Sache ganz praktisch an: Als Erzählerin startet sie direkt in einen Austausch mit indigenen Erzähler*innen; die Erkenntnisse des Projektes lassen folglich einen sehr hohen Grad an Glaubwürdigkeit und Expertise erwarten.

Bis wir schlauer sind, halten wir uns also an das alte Sprichwort der Scottish Travellers: „A story should be told eye to eye, mind to mind and heart to heart.“

Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf na­chhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lo­kalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.

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