Wie? Erzählen? Das ist doch kein Beruf?! Wo und wie arbeitest du denn dann?
Die Kunst des Geschichtenerzählens geht auf die Anfänge menschlicher Kultur zurück. Mitunter kommt sie sehr subtil daher und wird im medienüberfluteten Alltag oft kaum wahrgenommen. Dass sie deshalb keine Bedeutung hätte, ist ein gefährlicher Irrtum. Geschichten beflügeln unsere Imagination, nähren unser Verständnis von Sprache und können uns in Krisenzeiten Halt und Orientierung bieten.
In unserer Reihe The Storyteller’s Way lassen wir passionierte Erzähler*innen zu Wort kommen, die ihre Berufe kreativ zu Anwendungsfeldern der Erzählkunst umgestaltet und sie dadurch zur Entfaltung gebracht haben.
Alexander Mackenzie
Vor vielen Jahren arbeitete ich als Waldorflehrer und wollte an der International School of Storytelling am Emerson College einen Erzählkurs besuchen. Am Bahnhof holte mich Ashley Ramsden, Mitgründer der Erzählschule, mit seinem Kleinbus ab und als ich einstieg, schaute er mich an und fragte: „Woran arbeitest du gerade?“
Zu dieser Zeit arbeitete ich an gar nichts. Erzählen war für mich all das, was du erfindest, was dir spontan einfällt und was du dann sagst – und schon ist die Geschichte da. Aber das wollte ich so nicht sagen, also log ich:
„Ich arbeite an einer irischen Mythe.“
„Eine irische Mythe? Fantastisch!“, rief er, „welche denn?“
„Äh – ich bin noch nicht fertig. Ich denke noch über einen Namen nach.“
„Ohhh…“
Spontanes Erzählen – Sie werden mich erwischen
Der Kurs ging eine ganze Woche; es war der erste Erzählkurs mit Duncan Macintosh. Immer, wenn wir eine Übung machen sollten, tat ich so, als sei sie von der besagten Geschichte. Wenn wir also einen Charakter beschreiben und ihm einen Namen geben sollten, erfand ich einfach irgendwas.
Und ich dachte, sie werden mich erwischen – jeden Tag dachte ich, sie werden mich erwischen.
Am Ende der Woche gab es eine Präsentation und ich wusste, jetzt finden sie es raus. Ich ging hinab zu dem kleinen Teich bei Emerson und fragte mich, was ich nun tun oder sagen sollte – und dabei schlief ich ein. Als ich wieder erwachte, saßen zwei Schmetterlinge auf meiner Brust, die rasch davonflogen. Ich dachte, das ist ein gutes Zeichen.
Ich ging wieder hinauf und erfand eine Geschichte für sie, die etwa 20 Minuten dauerte.
„Wow, das ist fantastisch! Woher kommt diese Geschichte?“
Und dann erzählte ich endlich die Wahrheit.
„Was? Du hast die ganze Woche Geschichten erfunden? Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann hätte ich dich gerne hier als Lehrer für Spontanes Erzählen!“
Das also war dann meine Aufgabe. Während der nächsten zehn Jahre lehrte ich Spontanes Erzählen bei zahlreichen Symposien. Es gab nichts leichteres als das. Oft machten sich die Teilnehmer Gedanken, ob sie überhaupt genug gelernt hätten, genug wüssten und sich ausreichend auf meine Kurse vorbereitet hätten. Und dann kreuzte ich auf und fragte einfach: „Woran denkst du? Was beschäftigt dich gerade? Das ist deine Geschichte!“ – Das ist der Stoff, aus dem Erzählen gemacht ist, zumindest so, wie ich Erzählen verstehe.
Erzählkunst im Business: Ich sage immer ja, bevor ich nein sage
In einem meiner Kurse saß eines Tages ein Unternehmensberater, der danach auf mich zukam und mich fragte: „Könntest du dir vorstellen, Geschichtenerzählen im Business anzubieten?“
„Klar!“, sagte ich. Ich sage immer ja bevor ich nein sage, egal worum es geht. Ich hatte noch nie zuvor irgendetwas mit Unternehmen oder Organisationen zu tun, wirklich nie.
Aber bevor ich lange darüber nachdenken konnte, saß der Direktor der Universität in meinem kleinen Büro und fragte mich: „Also, was wirst du machen?“
Ich hatte keine Ahnung. Aber das kannst du so einem Businesskerl natürlich nicht erzählen, also erfand ich wieder irgendwas. Mein Hintergrund als Lehrer half mir dabei – ich redete über verschiedene Arten und Weisen zu erzählen und erläuterte den Unterschied zwischen intellektuellem Denken mit dem Verstand, intuitivem Denken mit dem Herzen und der körperlichen Erfahrung einer Handlung. Denken, Fühlen und Handeln sozusagen. Er war begeistert.
„Kannst du dafür eine Struktur liefern?“, fragte er.
Das also war dann meine Aufgabe während der nächsten zwanzig Jahre. Ich entwickelte das Programm Fearless Leader (etwa: furchtlos führen).
Glaubst du an das, wovon du erzählst?
Ich habe an einem Zwei-Jahres-Beratungstraining für Unternehmen teilgenommen. Mit leidenschaftlichem Interesse wollte ich verstehen: Wie funktionieren Menschen? Wie Strukturen? Wenn ich als Künstler in eine Organisation gehe und davon keine Ahnung habe und es mich auch nicht interessiert, würde ich in hohem Bogen rausfliegen. Ich muss die Sprache der Menschen sprechen, mit denen ich arbeite, sonst versteht mich niemand.
Erzählen ist zunächst mal eine verbale Form der Kommunikation. Wenn du eine Geschichte erzählst, verlagerst du den Fokus von irgendwelchen technischen Details eines Problems auf dich und deine Stimme. Deine Stimme ist deine Ressource um Aufmerksamkeit zu bekommen oder Wissen zu teilen.
Wenn du Berge versetzen willst, ist deine Stimme ein mächtigeres Werkzeug als deine Schaufel – das haben uns Menschen von Sokrates bis Churchill immer mal wieder gezeigt. Wenn du eine Geschichte erzählst, erreichst du Menschen tatsächlich auf ganz unterschiedlichen Ebenen: Auf der Kopfebene sprichst du den Verstand an und vermittelst Informationen, auf der Herzebene sprichst du die emotionale Auseinandersetzung mit dem Thema an und auf der Körperebene die Imagination und die Neugierde.
In meinem Programm „Fearless Leader“ ging es im Grunde darum, was passiert, wenn du wirklich an das glaubst, wovon du erzählst und wie dieser Glaube zu etwas Lebendigem wird. Und Lebendiges kann sich mit anderem Lebendigen verbinden. Wenn es dir gelingt, die Imagination der Menschen zu wecken, sind sie plötzlich begeistert von dem, was sie tun. Wenn es dir wirklich gelingt, diese Imagination zu wecken, dann lebst du die Geschichte, die du erzählst. So einfach ist das. Es geht darum, dir selbst und anderen zu vertrauen.
Aber das ist doch kein Erzählen!
Wenn du an diese Formel glaubst, dann hast du auch eine Geschichte. Wenn du nicht an diese Formel glaubst, verschwindest du, denn du bist kein Storyteller. Egal, wie gut dein Erinnerungsvermögen ist, egal wie schlau du bist und egal, wie viele Dinge du sonst noch aus dem Ärmel schütteln kannst.
Ich hatte mich entschieden, im Feld der Persönlichkeitsentwicklung und der Kommunikation zu arbeiten. Ich setzte mich mit verschiedenen Fragen auseinander, z. B. wie wir sprechen bzw. welchen Unterschied die Art macht, wie wir sprechen. Welche Wirkung es auf die Menschen in unserem Umfeld hat. Bei solchen Fragen möchte ich wissen, wer du als Person bist und wofür du dich interessierst.
Was du erzählst, sollte dich selbst interessieren und berühren. Wenn nicht, wird es nämlich auch niemand sonst interessieren und berühren. Versuche nicht, irgendwelche schlauen Dinge mit deiner Stimme anzustellen oder mit klugen Tricks deine Macht auszuüben. Versuche nicht, schlau zu sein. Das wird wahrscheinlich schon irgendeinen Effekt haben, aber der viel größere Effekt wäre, dass du nicht authentisch bist.
Also, wenn du nicht authentisch sein willst, dann mach das: Lerne all diese praktischen Dinge. Aber ich warne dich: Das wird nicht länger als 15 Minuten halten und dann wird dir bei deiner Präsentation keiner mehr zuhören. Die Leute wüssten wahrscheinlich nicht mal, warum sie dir nicht zuhören, sie wären einfach nicht mehr interessiert.
Es gibt all diese verschiedenen Ansätze für rationales, kritisches Denken, mit dem wir so gut Probleme lösen können – aber ich frage mich oft: Wo bleibt der Humor? Redest du jemals länger als 5 Minuten, ohne einen kleinen Witz zu machen? Wie verleihst du denn dann den schweren, dunklen Themen etwas Leichtigkeit? Du brauchst eine Vielfalt! Und du musst bereit sein, ein paar Risiken einzugehen. Das Ungewöhnliche, das Seltsame, das Mitfühlen mit anderen Menschen. Es gibt nichts Schlimmeres als „happy birthday“ oder „herzliches Beileid“ auf Facebook. Wenn interessiert’s? Aber wenn du etwas darüber sagst, was dir dein Gegenüber bedeutet (egal ob positiv oder negativ), dann hören dir die Leute zu.
Ich habe für Unternehmen gearbeitet und bin auf Symposien gegangen, auf Erzählertreffen – und immer war ich der Einzige, der auf diese Weise erzählte. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt, aber immer wieder wurde ich gefragt, was für eine Art von Erzähler ich bin. Und sobald ich antwortete, dass ich alles erfinde, sagten sie: „aber das ist doch kein Erzählen!“
Tja, wenn das so ist, dann ist das wohl so. Aber das ist alles, was ich anzubieten habe, alles, was ich durch meine Erfahrung bekommen konnte.
Ja genau, und…
Menschen wollen dich in Schubladen packen. Sie wollen dich einordnen können. Sie wollen sagen: „Erzählkunst ist xyz, nicht wahr?“
Ich habe viel Zeit damit verbracht, auf mehr oder weniger poetische Weise zu beschreiben, was Erzählkunst ist und was nicht. Dann habe ich herausgefunden, dass es auch hier besser ist, immer erst mal ja zu sagen, bevor ich nein sage.
Du beginnst also mit: „Tatsächlich hast du Recht und ich kann dir nichts Neues beibringen, aber wenn du fünf Minuten hast, könnten wir ein wenig drüber sprechen. Was denkst du?“
Und dann erklärst du den Unterschied.
Aber solange Menschen nach Orientierung suchen und dich in eine Schublade stecken wollen, so lange findet keine Kommunikation statt. Also hilf deinem Gegenüber! Sobald du denkst, dass die andere Person gut und richtig ist, egal wie, kann ein Gespräch beginnen.
„Du hast Recht. Wie machen wir es besser? Wie machen wir Marketing besser? Wie können wir bessere Gespräche führen? Wie können wir besser verhandeln?“
Du arbeitest einfach damit, dass das, was du sagst, mit dem, was du fühlst und dem, was du tust, übereinstimmt.
Eigentlich sind Menschen nämlich großartig. Aber durch ihre Sozialisation oder Erziehung haben sie das Bewusstsein dafür im Lauf der Zeit verloren. Du solltest es ihnen zurückgeben.
Übrigens: Ihr Gehirn wurde beschädigt
„Oh, es tut uns Leid, aber wir müssen Ihnen sagen, dass Ihr Gehirn beschädigt wurde.“
Das sagte der Arzt, als nach drei Tagen Krankenhaus endlich festgestellt wurde, dass ich einen Schlaganfall hatte. Na, herzlichen Dank.
In den vielen Jahren an der Universität wurde mein Kopf sehr wertgeschätzt und mein Denken – aber meine Sinne…
Mir wurde immerzu vermittelt, dass meine Gedanken einen größeren Wert haben als meine Gefühle. Ich hatte schon lange den Eindruck, dass ich mir damit auf die Dauer keinen Gefallen tue und wollte irgendetwas anderes machen. Der Schlaganfall erwischte mich, als ich mitten in meinem Masterstudium in Illustration steckte.
Inzwischen habe ich alles andere fast völlig heruntergefahren und bin sehr glücklich damit, mich endlich richtig mit Illustration beschäftigen zu können. Wenn ich an den Schlaganfall denke, frage ich mich oft, warum mein Körper so etwas tun musste, bevor ich auf die Idee kam, loszulassen.
Meistens werden wir Menschen erst kurz vor dem Tod weise. Dann stellen wir die richtigen Fragen. Vielleicht sterbe ich morgen oder nächste Woche, aber mein Leben ist erfüllend. Es ist lebendiger als je zuvor!
Es ist anders, wenn jeder Tag ein Geschenk ist.