Gemeinschaftsbildung
Die Kunst des Geschichtenerzählens geht auf die Anfänge menschlicher Kultur zurück. Mitunter kommt sie sehr subtil daher und wird im medienüberfluteten Alltag oft kaum wahrgenommen.
Dass sie deshalb keine Bedeutung hätte, ist ein gefährlicher Irrtum. Geschichten beflügeln unsere Imagination, nähren unser Verständnis von Sprache und können uns in Krisenzeiten Halt und Orientierung bieten.
In unserer Reihe The Storyteller’s Way lassen wir passionierte Erzähler*innen zu Wort kommen, die ihre Berufe kreativ zu Anwendungsfeldern der Erzählkunst umgestaltet und sie dadurch zur Entfaltung gebracht haben.
Stella Kassimati
Ursprünglich wusste ich über das Erzählen absolut nichts – ich hatte buchstäblich keine Verbindung zur Erzählkunst. Es geschah 2001, als ich in Athen lebte. Mein jüngster Sohn war damals dreieinhalb Jahre alt und ich dachte darüber nach, bald wieder zurück in meinen Beruf zu gehen. Ich war zehn Jahre zuvor ausgestiegen, um für meine Kinder da zu sein. Zuvor hatte ich im Tourismus gearbeitet und als ich nun zurück wollte, stellte ich entsetzt fest, dass sich mein Beruf total gewandelt hatte: Überall Computer! Das war wirklich schwierig für mich. Jeden Tag nahm ich Unterricht und lernte von 9 bis 5, aber es war einfach scheußlich.
Eines Tages schlug mir eine Freundin vor: „Nimm doch mal die Kinder zum Geschichtenerzählen mit, statt immer nur in den Park zu gehen.“ Also nahm ich meinen Sohn, meine Nichte und meinen Neffen mit und wir gingen zum Gemeinschaftshaus. Als wir ankamen, merkte ich, dass es sich um einen englischen Geschichtenerzähler handelte.
„Kommt wir gehen wieder – da werdet ihr nichts verstehen“, sagte ich zu den Kindern, denn damals sprachen sie noch kein Englisch. Aber die Kinder bestanden darauf zu bleiben.
Oh, diese unglaubliche Weisheit der Kinder…
Diese ausgesprochen hyperaktiven Kinder saßen dort für eine Stunde und fünfzehn Minuten still und hörten einfach zu.
Am nächsten Tag telefonierte ich mit einem Freund und erzählte ihm von dieser seltsamen Erfahrung. „Weißt du, da war gar nichts auf der Bühne, nur ein Mann mit einem Stuhl…“, sagte ich, als mich mein Sohn entrüstet unterbrach:
„Mama – lüg nicht! Der hat ständig seine Kostüme gewechselt! Und dieses tolle Bühnenbild…“
Ich war verblüfft. Was war denn das für ein Zauber? Lüg nicht? Ich hatte doch gar nicht gelogen. Schließlich ist es einer der heiligen Grundsätze in unserer Familie, niemals zu lügen, egal was passiert.
Ein paar Wochen später schaute ich flüchtig einen Stapel Broschüren durch. Ich wollte sie gerade wegwerfen, als mein Blick plötzlich auf ein Foto fiel: Ich schaute direkt in das Gesicht des Mannes, der die Geschichten erzählt hatte. Das wiederum war niemand anderes als Ashley Ramsden, der Gründer der „School of Storytelling“ am Emerson College. Eine Erzählschule! – Da will ich hin und diesen Zauber lernen, entschied ich.
Lange Zeit dachte ich, es sei Ashley gewesen, der mir die Welt der Erzählkunst nähergebracht hat. Doch als ich neulich an der Mythe von Midas arbeitete (der alles, was er berührte, zu Gold verwandelte), realisierte ich, dass es in Wirklichkeit die Intervention meines Sohnes war. Wie konnte er damals nur sagen „lüg nicht“? Und plötzlich, fast 20 Jahre später, verstand ich. Ich hatte gelogen – und er nicht. Meine Imagination war gestorben.
Damals geschah das unbewusst, aber nun war das eine wichtige Erkenntnis für mich. Von außen muss mein Entschluss gewirkt haben wie ein komischer Trip, denn ich verließ Griechenland und nahm meine Kinder mit nach England, um die Kunst des Erzählens zu lernen; in meinem Umfeld hielten mich alle für verrückt.
Geschichtenerzählen fördert die Imagination. Wir brauchen nichts außer unserem Vorstellungsvermögen, um mit allen lebendigen Wesen in Kontakt zu treten. Und das sollten wir auch tun, denn ansonsten sind wir in uns selbst gefangen und glauben, wir seien die Größten und die Natur sollte uns dienen. Ohne die Kraft der Imagination kann eine mehr-als-menschliche Welt nicht lebendig sein.
Eines der wichtigsten Dinge, die mich Geschichten gelehrt haben, ist, dass ich nicht allein im Universum existiere. Eigentlich bin ich Eins mit allem, bin eingebettet. Das war wirklich eine unglaublich großartige Lektion.
Jedes Sterben ist ein Neubeginn
Ich verbrachte den Sommer 2004 in meinem Geburtsort Amari, als mich meine Lehrerin Sue Hollingsworth mit ihrem Mann besuchte.
Das Tal von Amari ist eine bergige Region mit 26 kleinen Dörfern und es ist die einzige Gemeinde auf Kreta, die völlig vom Meer abgeschnitten ist. Viele Leute verlassen Amari; sie suchen Zugang zum Meer und damit Perspektiven, hauptsächlich im Tourismus. Das abgeschlossene Amari ist damit eine der ärmsten und unterentwickelsten Regionen auf Kreta.
Ich verbrachte meine Zeit also in diesem Dorf, das Amari hieß, genau wie das ganze Tal. Das Dorf Amari war gewissermaßen die Hauptstadt dieser Region, darum gab es hier größere Häuser und Straßen als in den anderen Dörfern. Amari war außerdem eines der wenigen Dörfer, die im Zweiten Weltkrieg nicht niedergebrannt wurden, es hatte also viel von seiner malerischen Architektur und seinem Charme behalten.
Dennoch konnte man deutlich sehen, wie vernachlässigt und baufällig alles war.
Wir spazierten durch das Dorf, Sue und ich, und angesichts dieser misshandelten Schönheit fing sie an zu weinen.
Ich erinnere mich an unser langes Gespräch über das Dorf. Ich sagte zu Sue: „Jedes Sterben ist ein Neubeginn. Das ist eine grandiose Möglichkeit.“ Wir überlegten hin und her und kamen schließlich auf die Idee, das Schulgebäude von Amari zu renovieren und dort Kurse im Geschichtenerzählen zu geben – und das war die Geburtsstunde der großen Idee. Wir gaben uns die Hand. Es lag Kraft in diesem Händedruck.
Ein grausames Schicksal ließ Sues Mann innerhalb eines Jahres sterben. Sie hatte keine Energie mehr für irgendwas. Und da stand ich nun mit dieser Idee, mit der Renovierung des Schulgebäudes das Leben zurück nach Amari zu bringen. Wie sollte das gehen?
Ich erzählte meinen engsten Freunden von der Idee. „Das ist es, was ich vorhabe. Wollt ihr mitmachen? Wollt ihr das unterstützen? Habt ihr irgendwelche Ideen?“ – Die Antwort war überwältigend. Wir trafen uns Anfang 2006 in England. Alle meine Freunde versammelten sich und wir entschieden, dass eine kleine Gruppe im August als „Kundschafter“ nach Amari reisen sollte, um mehr und Genaueres über die Bedürfnisse von Land und Leuten zu erfahren. Wir wollten herausfinden, ob es möglich sein würde, dort Erzählkurse zu geben. Aber vor allen Dingen wollten wir zuhören.
Es wurde eine fantastische Erfahrung. Wir sahen, dass es tatsächlich klappen konnte. Das Problem war nur die Unterbringung: Es gab kein Hotel, keine Gästezimmer, gar nichts. Die Leute nahmen uns einfach in ihren Häusern auf.
Neben der Polizeistation gab es ein paar leer stehende Räume und wir beschlossen, dort unser Basis aufzubauen. Wir begannen mit dem Fundraising, fanden einen großzügigen Spender und renovierten alle 4 Räume und den Speisesaal und die Toiletten, statteten alles mit Möbeln aus – und hatten ein Zuhause!
Der erste Erzählkurs fand 2008 statt. Allerdings hatten wir nur 8 Betten – und wieder nahmen die Leute im Dorf unsere Teilnehmer*innen in ihren Häusern auf. Eigentlich war das prima, denn im Grunde war das die Geburtsstunde der Gästezimmer in Amari. Für uns machte es trotzdem einen Unterschied, denn wir hatten ja nun unsere Basis und damit einen Ort, wo wir uns treffen, kochen und essen und miteinander die Abende verbringen konnten. Es war ein Anfang.
Anfangs waren die Einwohner ein bisschen misstrauisch. Was machen denn eigentlich all diese Leute, die den ganzen Tag nur grinsend herumlaufen und alles toll finden? Was lernen die in diesen Kursen? Was hat die verrückte Stella schon wieder vor?
Ich erinnere mich an das Dorffest Ende August. Wir hatten gerade einen Kurs zum Thema Biografisches Erzählen und drei unserer Mitglieder nahmen das zum Anlass für einen öffentlichen Auftritt beim Fest. Sie erzählten, was Amari für sie bedeutete. Das war der Wendepunkt – mit diesen Geschichten erreichten wir die Herzen der Menschen und gewannen sie nach und nach für uns. Inzwischen genießen sie den Austausch mit den Besucher*innen – keine Touristen, sondern Fremde, von Zeus gesandt, die Freunde werden könnten.
Dennoch durchliefen wir eine harte Phase: Es gab ja nicht mal ein Café im Dorf. Und die Leute beschwerten sich, dass die Gäste kein Geld in Amari ließen. Ich sagte: „Da habt ihr schon Recht – aber in Amari kann ja auch niemand Geld ausgeben! Ihr müsst eben was verkaufen.“ Unsere Kursteilnehmer*innen waren sich der Situation sehr wohl bewusst und wollten die lokale Wirtschaft wirklich gerne unterstützen.
Inzwischen gibt es nicht nur ein Café, sondern man bekommt auch die meisten Dinge des täglichen Bedarfs in Amari – und zwar aus lokaler Herstellung.
Was auch immer die Leute für Initiativen entwickeln, wir versuchen sie zu unterstützen und uns daran zu beteiligen. Wir achten sehr darauf, niemanden zu bevormunden oder alles selbst zu machen, sondern wir warten auf die Eigeninitiative und dann unterstützen wir nach Kräften. Das ist unsere Arbeitsweise seit 12 oder 13 Jahren.
Im Dorf hat sich einiges verändert. Keine großen Sachen, sondern kleine, aber wichtige.
Nichts von dem, was passiert ist, können wir uns auf die Fahne schreiben. Geschichtenerzählen ist eine sehr subtile Kunstform. Von unserem Handschlag 2004 bis 2016 wurden in Amari fast 20 Häuser renoviert und 3 oder 4 neue Häuser wurden gebaut. Ich kann also nicht behaupten, dass wir das alles verursacht haben, aber irgendwie herrscht eine andere Energie hier im Dorf. Dieser Händedruck wirkte wie ein Stein, der in stilles Wasser geworfen wird: Es entstand Bewegung und plötzlich entschied jemand: „Jetzt werde ich mal mein Haus in Amari renovieren…“
Kunst ist eine belastbare Brücke, die Menschen und Orte verbinden kann. Musik ist eine starke Brücke und Geschichten sowieso. Wir hatten einfach das Glück, dass 80 % unserer Mitglieder Erzähler*innen waren.
„Friends of Amari“ ist ein eingetragener Verein mit einer entsprechenden Struktur. Für die Gründung brauchten wir 20 Personen. Inzwischen haben wir rund 50 Mitglieder und unsere Erzählkurse wurden von rund 200 Teilnehmenden besucht. Wer mit dem Flugzeug oder dem Auto anreist, wird feststellen, dass Amari nicht so leicht zu erreichen ist. Die bergige Region läuft jedenfalls keine Gefahr, zum Touristenhotspot zu werden. Wer Amari besucht, kommt nicht aus Versehen, sondern ist wirklich interessiert.
Mein Motiv: Die großartige Energie Amaris mit anderen Menschen teilen
Das Tal von Amari ist der letzte Rückzugsort der Göttin. Dieser Platz ist seit 4.000 oder 5.000 Jahren bewohnt. Hier findet man die Spuren der Verehrung von Hermes, Demeter und der großen Göttin. Wir leben am Fuß des Berges Psiloriti, wo einst Zeus spielte, als er noch ein kleiner Junge war. Dieser Ort ist aufs Engste verbunden mit der griechischen Mythologie! Wer Amari besucht, wird die nährende, starke, heilende Energie eines Ortes spüren, der Tausende von Jahren lang den Menschen eine Heimat war. Diese Energie will ich mit Menschen teilen, die sie respektieren und erwidern können und die verstehen, was dieser Ort zu bieten hat.
Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf nachhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lokalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.
Weiterführende Infos
- Friends of Amari
- School of Storytelling (am Emerson College, UK)