Wenn Helden reisen

Was genau ist eigentlich diese berüchtigte Heldenreise? Sind Helden überhaupt noch zeitgemäß oder sollten wir dieses ewige Heldentum nicht langsam mal aussortieren? Welche Rolle spielen sie wirklich in den Geschichten?

Sobald wir uns mit Zaubermärchen intensiv auseinandersetzen, werden wir einem Muster begegnen, das in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder auftaucht, nämlich die Heldenreise.
An der Heldenreise und dem Heldenbegriff gibt es von unterschiedlichen Seiten immer wieder Kritik. Zu oft ist der Heldenbegriff in patriarchalen, nationalistischen und gewaltverherrlichenden Zusammenhängen verwendet worden, und zwar ganz besonders in Deutschland.

Ganz allgemein erkennt man einen Helden daran, dass er sich für eine große Sache einsetzt, sich in Gefahr begibt und sich dadurch von anderen abhebt. Was zunächst nach einer klaren Definition klingt, zerfranst beim näheren Hinschauen schnell in viele lose Enden: Wann genau ist eine Sache denn groß, wer bestimmt eigentlich, ob die große Sache überhaupt wünschenswert ist und wer bewertet, was und wie groß eine Gefahr ist?

Ein groß angelegtes Forschungsprojekt der Uni Freiburg hat sich mehrere Jahre lang intensiv mit Helden, Heroisierungen und Heroismen auseinandergesetzt und ist zu einem sehr differenzierten Bild des Helden gelangt. Altertumswissenschaftler Ralf von den Hoff erläutert dazu:

„Heroische Figuren, so dachten wir am Anfang, sind in erster Linie Identifikationsfiguren – Figuren, mit denen man sich gemein machen will, die etwas geleistet haben, was man selbst auch gerne wollte aber was man nicht unbedingt schafft. Es wird aber immer deutlicher, dass heroische Figuren nicht nur das Positive sind, sondern auch die negative Seite des Konflikts haben.
Helden führen dazu, dass polarisiert wird. Man bekennt sich zu ihnen oder auch genau zum Gegenteil. Das Beispiel, das wir gerne anführen sind natürlich die Anschläge in New York am 11. September 2001, weil alle Figuren, die an diesen Anschlägen beteiligt waren in unterschiedlichen Zusammenhängen als Helden gesehen werden: Die Attentäter von den einen, die Feuerwehrleute von den anderen; die Verstorbenen von den einen, die „Märtyrer“ von den anderen. Hier sind also alle Beteiligten Helden – auf der einen oder der anderen Seite. Wer ein Held ist, ist also die falsche Frage. Richtig müssten wir fragen: Wer bezeichnet wen als Held und wozu tut er oder sie das.“

Soweit also zur kulturellen, gesellschaftlichen und äußerlichen Perspektive auf Helden. In der Auseinandersetzung mit Zaubermärchen müssen uns allerdings folgende Dinge klar sein:

  1. Es geht nicht um ein äußeres, sondern um ein inneres Anliegen.
  2. Es geht nicht um ein kollektives, sondern um ein individuelles Anliegen.
  3. Die Heldenreise thematisiert die persönliche Entwicklung und die damit verbundenen Wachstumskrisen. In der Regel sind die Hauptmotive Sicherheit und Freiheit, in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen und Ausprägungen. Abgelehnte Anteile der eigenen Persönlichkeit stellen die Dämonen dar, mit denen wir kämpfen und die wir überwinden bzw. integrieren müssen, um uns weiterentwickeln und wachsen zu können.

Die hier geschilderte innerliche bzw. psychologische Perspektive ist ein universelles menschliches Muster, das in unzähligen Kulturen und Zeitaltern in allen Erdteilen in den Geschichten aufgetaucht ist. Diese Erkenntnis verdanken wir im Wesentlichen dem amerikanischen Mythologen Joseph Campbell, der sie in seinem Buch „Der Heros in Tausend Gestalten“ umfassend ausgearbeitet hat. Die innerliche (psychologische) Perspektive sollte keinesfalls mit der äußerlichen (gesellschaftlichen) Perspektive durcheinandergebracht werden, sonst entstehen sehr schnell ernsthafte Missverständnisse und Schlimmeres.

Campbell zufolge geht es bei der Heldenreise darum, „den wilden Drachen des eigenen Ego zu schlachten und der Glückseligkeit zur Wahrheit des eigenen Lebens zu folgen“ – eine Haltung und Absicht, die uns sehr viel Mut abverlangt und die im Koran als Dschihad bezeichnet wird. Diesen Begriff kennen wir eher im Zusammenhang mit islamischem Fundamentalismus und haben damit eines von zahlreichen traurigen Beispielen vor Augen, was passiert, wenn der Aufruf zum inneren Kampf, zur inneren Anstrengung und zum inneren Wachstum veräußerlicht wird: Es endet in Mord und Totschlag.

Wenn wir nicht in die Falle tappen, unsere Dämonen nach außen zu projizieren, bewegen wir uns im Kontext von Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung. In Deutschland bieten Organisationen wie „Irgendwie Anders“ Seminare mit dem Titel „Die Heldenreise an“. Irgendwie anders erklärt auf der Website die Hintergründe und Zusammenhänge wie folgt:

„Auf der Grundlage von Campbells Entdeckungen entwickelte der Gestalttherapeut und Theaterregisseur Paul Rebillot Ende der 1970er Jahre einen kreativen Selbsterfahrungsprozess. Für Rebillot spiegeln die Heldenmythen unseren täglichen inneren Konflikt zwischen Sehnsucht und Sicherheit wider. Er begreift diesen inneren Konflikt als Chance und erkennt in ihm das enorme Potential für tiefgreifenden persönlichen Wandel.

Bereits in seiner Zeit am Theater und insbesondere in seiner Arbeit als Gestalttherapeut erkannte Paul Rebillot, dass wesentliche Lebensthemen und innere Konflikte nicht allein durch unseren Verstand gelöst werden können. Folgt man Rebillot, dann verlangt dieser innere Widerspruch danach, auf allen Erfahrungsebenen erlebt und ausgetragen zu werden: kognitiv, körperlich und emotional. Auf dieser Annahme basierend entwickelte er das Intensiv-Seminar „Die Heldenreise“, die eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit diesem inneren Konflikt ermöglicht.“

In eben diesem inneren Rahmen bewegen sich auch die Zaubermärchen und thematisieren und begleiten Entwicklungs- und Wachstumskrisen der individuellen Persönlichkeit. Zaubermärchen richten sich also eher an das Individuum und Mythen eher an das Kollektiv.

Das eigentliche Modell der Heldenreise lässt sich als ein Zyklus darstellen, der sich relativ geschmeidig mit anderen lebendigen Zyklen verbinden lässt, wie ich sie bereits im Artikel „Orientierung an natürlichen Kreisläufen“ geschildert hatte, wenn wir uns auf die folgenden 8 Stationen einigen:

  1. Der Ruf
    Irgendwann im Alltag erreicht dich der Ruf: Der Wunsch, das innere Verlangen nach einer bestimmten Eigenart oder Fähigkeit oder einem bestimmten Lebensgefühl. Das ist verständlich, passiert uns allen mal, aber als mündige Erwachsene sollten wir unsere Emotionen im Griff haben, die Tatsachen zur Kenntnis nehmen und vernünftig handeln. Du beschließt, diese Sache erst mal ruhen zu lassen.
  2. Überschreiten der ersten Schwelle
    All diesen Erkenntnissen zum Trotz: Wenn dein inneres Verlangen, dein Ruf, stark genug war, machst du irgendwann doch den ersten Schritt. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der dich beschützt und der dir hilft zu leben“, schrieb Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“. Das ist die Magie der Schwelle. Und du überschreitest sie.
  3. Der Weg der Prüfungen
    Die anfängliche Euphorie ist verflogen. Jetzt befindest du dich in der „Anderswelt“, alles ist unbekannt und du bist wieder Anfänger*in und gehst einen mühsamen Weg voller Fehlschläge und voller Versuchungen. Wie einfach wäre es, wieder in das gewohnte Leben zurückzukehren! Verglichen mit diesem Weg war das doch viel besser! Verzweiflung macht sich breit, vernebelt deinen Geist. Aber du bist nicht alleine – vor und hinter dir im Nebel gehen auch Menschen und manchmal kreuzen sich die Wege und für kurze Zeit erhältst du einen Mentor oder Gefährten.
  4. Die höchste Prüfung
    Nun bist du weit gegangen und hast vieles erlebt. Du kennst die Gesetze dieser „Anderswelt“ und weist, worauf es hinausläuft: Die Konfrontation mit dem „Endgegner“, die große Prüfung, der Abgrund, den man eben nicht mit zwei kleinen Schritten überqueren kann, sondern nur mit einem Sprung. Und ein Sprung heißt: Alles auf eine Karte setzen. Alles oder nichts. Leben oder Sterben. Es gibt keine Garantie für nichts, kein Verprechen, nur noch den Ruf, diesen beschissenen Ruf von der anderen Seite.
    Vielleicht ist es Mut, vielleicht Verzweiflung – jedenfalls nimmst du nun Anlauf und springst.
  5. Die Gabe
    Jetzt beginnt die Erntezeit – du hast es geschafft! Du spürst die Veränderung, merkst, dass es aufwärts geht, saugst begierig alles auf, was dir begegnest, spielst wie ein Kind mit deinen neuen Eigenschaften und Fähigkeiten…
  6. Überschreitung der zweiten Schwelle
    Dir ist klar, dass diese Gabe in die Welt muss. Du entschließt dich zur Rückkehr und überschreitest zum zweiten Mal die Schwelle, kehrst von der Anderswelt in die gewöhnliche Welt zurück.
  7. Die schwierige Rückkehr
    „Der Prophet gilt nichts in seinem Heimatland“, sagt ein Sprichwort. Die Rückkehr wird alles andere als einfach, denn die restliche Welt hat sich nicht in gleichem Maße entwickelt wie du und teilt deine Euphorie ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Als mündige Erwachsene sollten wir… usw. Dir wird klar: Es wird harte Arbeit werden, deine Vision in die Welt zu bringen.
  8. Der erfüllte Alltag
    Wenn du all das geschafft hast, ist dein neuer Alltag lebendiger, erfüllter und reicher – bis zum nächsten Ruf…

Natürlich kann das Modell auch differenzierter oder einfacher dargestellt werden. Außerdem sind nicht in jeder Geschichte alle Stationen gleichermaßen vertreten:

  • Abkürzungen
    Die finden wir oft in den Märchen der Gebrüder Grimm, wenn die Geschichte nämlich mit der Hochzeit endet und die Beteiligten gar keine schwierige Rückkehr antreten.
  • Subtile und rätselhafte Darstellungen
    In „König Lindwurm“ wird geradezu eine falsche Fährte gelegt und irgendwann fragen wir uns, wer hier eigentlich die Heldenreise macht – der Lindwurm, die Tochter des Schäfers oder möglicherweise auch beide. Und wer ist hier eigentlich wessen Ruf gefolgt?
  • Wechsel von Ebenen
    Ein ziemlich heftiges Beispiel ist die nordamerikanische Initiationsgeschichte „Jumping Mouse“. Im Verlauf der Geschichte verwandelt sich die Maus in einen Adler – und damit in ihren eigenen Fressfeind. Von einer Rückkehr in die eigene Gemeinschaft kann also keine Rede sein.

Solche und weitere Abwandlungen haben dazu geführt, dass zahlreiche verschiedene Versionen und Varianten des Modells der Heldenreise im Umlauf sind. Das mag aus wissenschaftlicher Sicht ein Qualitätsmangel sein. Aus erzählerischer Sicht ist es eher ein Vertrauensbeweis in lebende Prozesse.
Möglicherweise kennen wir das aus unserer eigenen Biografie, in der Einzelereignisse immer wieder das Muster überlagern oder einzelne Phasen übermäßig gestaucht oder gedehnt erscheinen mögen. Bei uns im Schwarzwald sagt man dazu: „S’Läbe isch koi Schlotzer.“

Weiterführende Infos

  • Zusammenfassende Einführung in das Forschungsprojekt der Uni Freiburg in Unileben 04/2012 – „Geschaffen von Verehrern:Helden prägen Gemeinschaften seit der Antike“
  • Website des Forschungsprojektes der Uni Freiburg mit zahlreichen Publikationen
  • Was Menschen zu Helden macht – Von Herakles bis Greta Thunberg.
    Radioreportage SWR2, Text und Audio, 28 min.
  • Heroismus in postheroischen Zeiten – Gibt es ein Comeback des Helden?
    Radioreportage DLF, Text und Audio, 30 min.
  • Joseph Campbell: Der Heros in Tausend Gestalten
  • Paul Rebillot, Melissa Kay: Die Heldenreise. Das Abenteuer der kreativen Selbsterfahrung
  • Irgendwie Anders – Anbieter des Seminars „Die Heldenreise“ im deutschsprachigen Raum
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