Geschenk und Ritual

Schönheit umgibt uns überall, doch gewöhnlich erkennen wir sie nur, wenn wir durch einen Garten spazieren.

Rumi war ein unglaublich begnadeter Geschichtenerzähler. Außerdem war der persische Sufi-Mystiker ein Mann, der den Duft der Wüste kannte. Sein Ausspruch über die Schönheit zeigt uns, dass er Geschenke auch dann als solche erkennen konnte, wenn sie nicht in Geschenkpapier verpackt waren. Womöglich war ihm auch klar, dass das nicht alle Menschen vermochten. Jedenfalls verpackte er das, was er uns zu sagen hatte, in ein grandioses „sprachliches Geschenkpapier“: Seine Gedichte haben nach über 700 Jahren nichts von ihrer Ästhetik verloren.

Wenn wir etwas verschenken möchten, kann also die eine oder andere Art von Geschenkpapier sehr hilfreich sein. Beim Einpacken sind wir vielleicht in Gedanken bei dem Menschen, den wir beschenken möchten. Und wenn wir selbst ein Geschenk erhalten haben, sind wir beim Auspacken natürlich neugierig: Fühlt sich wie ein Buch an. Oder? Doch. Ist ein Buch. Was? Gedichte von Rumi? Darüber haben wir vor mehr als zwei Monaten mal am Telefon gesprochen! Das hat er/sie sich gemerkt? Unglaublich!
Der Moment, in dem wir im Geschenk die Beziehung zu unserem Gegenüber wiedererkennen, ist ein wichtiger Augenblick. In diesem Sinne können wir das Auspacken als Ritual verstehen, das uns die Zeit gibt, uns innerlich auf den Moment des Erkennens vorzubereiten.

Wie wählst du Geschenke aus? Wie wählst du Geschichten aus? Verstehst du Geschichten als Geschenke? Falls ja, wie gestaltest du das Geschenkpapier und die Übergabe?
Solche Fragen sind gar nicht so einfach zu beantworten; wir sind halt keine kleinen Rumis. Wir können uns aber trotzdem über dieses sprachliche Geschenkpapier Gedanken machen und dazu ist es nützlich, ein bisschen mehr über Rituale zu erfahren.

Die Allgegenwart der Rituale

Rituale – die gehören doch in die Zeit mit Kerzenlicht, niedrigen Decken, knarrenden Dielenböden und abergläubischen Alten, die sich bei jedem Schatten bekreuzigen? Im Internetzeitalter unserer modernen Wissensgesellschaft haben Rituale nichts mehr zu suchen.

Ausnahmen sind natürlich Weihnachten und Silvester. Naja, und vielleicht noch Ostern. Und Geburtstage. Und Hochzeiten, Trauerfeiern, Einschulung, Zeugnisverleihung, Jubiläum mit Bürgermeistergratulation, der Frühjahrsputz, die Gelöbnisfeier für Soldaten und die Prämierung von Zuchthengsten. Und noch ein paar Hundert andere Gelegenheiten.

Von der Abiparty bis zum Zapfenstreich ist unser gesellschaftliches Leben voll von Ritualen. Mag sein, dass wir manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Die spannende Frage ist doch aber: Welche Rolle spielt dieser Wald aus Ritualen im Ökosystem unserer Gesellschaft?
Prof. Malidoma Somé hält Rituale für universell. „Jede Kultur wird erst zur Kultur, weil sie unbewusst oder bewusst Rituale praktiziert. In der Liebe zwischen den Menschen, in ihren Begegnungen, in der Choreographie ihres Verhaltens, mit dem sie sich auf etwas Symbolisches beziehen, das größer ist als sie selbst und sie verbindet. Das ist in jedem Land sichtbar“, erklärt Somé, der Literaturwissenschaften in Michigan lehrte und gleichzeitig Schamane der Dagara (Burkina Faso) war.

Auch der Journalist und Visionssucheleiter Geseko von Lüpke beschreibt, dass wir Rituale zur Organisation unseres Lebens, unserer Kommunikation und unserer Beziehungen nutzen.
„Immer dann, wenn wir einer Handlung besondere Bedeutung verleihen wollen, greifen wir zurück auf Rituale. Durch zeremonielle Gesten, Worte, Kleidung oder durch eine besondere Ausstattung wird die Handlung rituell „verpackt“, hervorgehoben, wichtig gemacht, besonders, bewusst oder sogar heilig.“

Das Geschenkpapier für Geschichten

Für Geschichtenerzähler*innen spielen Ausstattung oder Kleidung nicht unbedingt eine große Rolle – Worte und Gesten allerdings schon. Viele Märchen beginnen beispielsweise mit der Formel „Es war einmal, vor langer, langer Zeit…“, die wir wie einen geheimen Dresscode für das Gehirn verstehen können: „Was nun folgt, wird nicht deinen Verstand sondern deine Seele ansprechen und ist eine Einladung, dich zu entspannen und dem Alltag zu entfliehen“. Wir könnten das durchaus als ein sprachliches Mini-Ritual verstehen, was freilich weit von der Ästhetik eines Rumi entfernt ist.

Im Neurolinguistischen Programmieren (NLP) wird dieser Prozess übrigens „Priming“ genannt. Gemeint ist damit, dass ein erster Reiz (Prime), der durch das menschliche Gehirn aufgenommen wird, die Reaktion auf darauf folgende Reize maßgeblich beeinflusst. Das heißt der Prime aktiviert ein Assoziationsfeld, mit dem das danach Folgende in Verbindung gebracht wird.

Mag sein, dass diese Erklärung wissenschaftlich korrekt und nützlich war. Wenn ich sie aber als Geschenk verpacken wollte, würde ich eher die Worte des mittelalterlichen Philosophen Meister Eckardt wählen:
„Wenn die Seele eine Erfahrung sucht, wirft sie ein Bild dieser Erfahrung vor sich nach außen und tritt dann in ihr eigenes Bild ein.“

Bevor wir also den Mund öffnen um eine Geschichte hinauszulassen, sollten wir uns über unsere Motivation zum Erzählen im Klaren sein. Erst dann werden wir das passende Ritual dazu finden und ausgestalten können. Erst dann werden wir ein Gespür dafür entwickeln können, was der passende Rahmen für das Bild, das passende Papier für das Geschenk werden könnte.
Was bleibt mir nun anderes übrig, als zum Abschluss schon wieder die Scottish Travellers zu zitieren?
„A story should be told eye to eye, mind to mind and heart to heart.“

Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf na­chhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lo­kalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.

Weiterführende Infos

  • Vision Quest. Visionssuche: Allein in der Wildnis auf dem Weg zu sich selbst. von Lüpke, Koch-Weser, Klein-Jasedow 2009, v. a. S. 125 – 130

  • Altes Wissen für eine neue Zeit. Gespräche mit Heilern und Schamanen des 21. Jahrhunderts. von Lüpke, München 2012, v. a. Interview mit Malidoma Somé ab S. 198

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