Kairos - Prolog

Seit jeher ist unser Denken und Handeln Ausdruck der Verbindung von Mythos und Logos. Wenn wir die zahlreichen Krisen der Gegenwart überwinden und als Gesellschaft zukunftsfähig werden wollen, müssen wir uns der Bedeutung mythischer Narrative bewusst werden und lernen, mit ihnen umzugehen.

Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, die begriffen, aber sich nicht vergegenwärtigen konnten, voller Information, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.

Und immer wieder die Vernunft

Der Bundespräsident betritt den Großen Saal von Schloss Bellevue und geht zum Rednerpult. Der Saal ist riesig, normalerweise finden hier große Veranstaltungen statt. Aber heute Morgen gibt es kein „normal“. Neben dem Technikteam sind nur drei Gäste im Raum, vier weitere sind digital zugeschaltet. Es ist der 12. Januar 2022, Coronapandemie, und der Bundespräsident eröffnet eine Diskussionsveranstaltung mit Bürger*innen zum Pro und Contra einer Impfpflicht. 

Er sagt: „Wenn wir diese Fragen gleich miteinander diskutieren, sozusagen beispielhaft für die vielen Diskussionen in unserem Land, dann hoffe ich: Wir tun es mit Verve, aber auch mit der Bereitschaft zuzuhören. Mit Respekt vor anderen Haltungen, aber auch mit Respekt vor Fakten und Vernunft, die unsere gemeinsame Währung sein und bleiben müssen.“

Die Lage im Land ist so aufgeheizt, dass das Staatsoberhaupt sich persönlich engagiert, damit die Debattenkultur als Grundlage unserer demokratischen Ordnung nicht den Bach runtergeht. Fakten und Vernunft sollen als gemeinsame Währung wenigstens der Pandemie der Emotionen Einhalt gebieten. Da leuchtet das helle Licht der Aufklärung inmitten der Finsternis wilder Verschwörungsmythen.

Der Bundespräsident war früher mal Außenminister und in diesem Job ist viel Zungenspitzengefühl gefragt. Trotzdem öffnet er einen etwas seltsamen Raum mit den Fakten und der Vernunft auf der einen Seite und den „anderen Haltungen“ auf der anderen Seite. Da regt sich der leise Verdacht, dass er am liebsten bei den Fakten bliebe, aber genau weiß, dass er damit die Kuh nicht vom Eis kriegt. Aber als Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland ist er natürlich mit der Tradition und den Werten der Aufklärung und des Humanismus verbunden, die unsere moderne westliche Gesellschaft, ihr Weltbild und eben auch ihre Würdenträger geformt und geprägt haben.

Mythos und Logos

Spiritualität im Sinne einer wechselseitigen Verbundenheit des Menschen mit der lebendigen Welt ist zum Beispiel nicht das Fundament, auf dem wir heute unsere kollektiven Entscheidungen treffen. Unser Weltbild sieht ganz anders aus. Seine Kernelemente sind Zertrennung, Reduktion und Abstraktion sowie der Leitgedanke, dass sich (auch lebende) Systeme durch die Analyse ihrer Einzelteile verstehen lassen.

Dieses Weltbild hat erheblich zur Entfaltung und Differenzierung der Wissenschaften beigetragen. Umgekehrt ist das allerdings nicht der Fall: Bereits seit etwa einem Jahrhundert gewinnen die Wissenschaften praktisch am laufenden Band Erkenntnisse, die mit dem mechanistischen, reduktionistischen Weltbild nicht übereinstimmen. Das hatte aber interessanterweise keine größeren Auswirkungen. Und so basiert die moderne westliche Welt auf einem Weltbild, dessen Wahrheitsanspruch sich längst nicht mehr auf Fakten gründet, sondern schlicht auf seiner Wirksamkeit. So etwas nennt man übrigens einen Mythos.

Kairos

Kairos, der griechische „Gott der guten Gelegenheit“ beschreibt den günstigen Zeitpunkt einer Entscheidung, der nicht ungenutzt verstreichen sollte. Im größeren Rahmen geht es dabei um jene Momente, in denen sich die Bezugsrahmen einer Gesellschaft verschieben. Nach dieser Verschiebung findet eine Verwandlung der grundlegenden Prinzipien und Symbole statt, wodurch sich die Grenzen zwischen Mythos und Geschichte, Wissenschaft und Magie auflösen und eine tiefgreifende Veränderung ermöglichen. Ein derartiger Paradigmenwechsel macht Aspekte der Realität sichtbar, die zuvor unvorstellbar waren, aber nun nie mehr übersehen werden können.

Vor diesem Hintergrund soll Kairos Namenspate für unsere erzählerische Auseinandersetzung mit Mythen und Mythologie sein, wobei wir von folgenden Voraussetzungen ausgehen:

  1. Wir Menschen sind Mythen schaffende Lebewesen: Der Mythos führt unser Denken und Handeln, der Logos organisiert Das eine ohne das andere zu wollen führt zum Zertrennen von Zusammenhängen, die für das Verständnis des Betrachteten unverzichtbar sind.

  2. In der Epoche der Aufklärung wurde die Vernunft als universelle Urteilsinstanz und Überwindung des „mythischen Dunkels“ dargestellt. Die feste Überzeugung, durch rationalen Verstand den Mythos überwunden zu haben, wurde letztlich selbst zum Mythos, der bis heute funktioniert: Unsere spätmoderne westliche Gesellschaft ist noch immer davon überzeugt, keine Mythen mehr zu schaffen.

  3. Wir verdanken der Aufklärung die Entstehung und Verbreitung humanistischer Werte. Zugleich trug sie aber auch dazu bei, ein mechanistisches und reduktionistisches Weltbild zu verfestigen, das wesentlich von Descartes geprägt wurde. Dieses Weltbild verstellt bis heute das Bewusstsein unserer wechselseitigen Verbundenheit mit der mehr-als-menschlichen Welt. Mythen, denen dieser Zusammenhang fehlt, schaffen Entfremdung und haben potenziell katastrophale Folgen. Sie sind umso gefährlicher, wenn sie uns nicht einmal bewusst sind.

  4. Keine andere Art hat die Lebensbedingungen für so viele andere Arten in so kurzer Zeit so nachhaltig verändert wie der Mensch. Inzwischen wird sogar vom „Anthropozän“ als neuem Erdzeitalter gesprochen. Wir müssen uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass wir die Verantwortung dafür tragen, welche Triebkräfte das Fundament unserer Mythen bilden.

Mit dieser Betrachtung wollen wir uns auf die Erzählkunst als Medium konzentrieren, denn mündlich überlieferte Mythen sind seit mehreren zehntausend Jahren „dynamische Kunstwerke“, deren Sinn im Gegensatz zu religiösen Dogmen niemals festgelegt ist. Mythen sind Geschichten, die mit dem Anspruch erzählt und aufgegriffen werden, dass wir die Gegenwart und uns selbst aus ihnen verstehen sollen. Ihre Eigenschaft, in der Veränderung erkennbar zu bleiben und immer neue Deutungen zuzulassen, sorgt dafür, dass Mythen mit der Zeit an Bedeutsamkeit gewinnen. Dabei liegt ihr Wahrheitsanspruch nicht in den Fakten, sondern eben in ihrer Bedeutsamkeit.

Offenbar ist genau diese Tatsache im öffenlichen Bewusstsein kaum präsent: Bezüglich einer angemessenen Lebensweise fehlt uns eine Orientierung, die wir im verhassten Mythos nicht suchen wollen und im vergötterten Logos nicht finden können. Wir halten uns selbst in einer paradoxen Situation gefangen, indem wir uns die Entwicklung einer kollektiven Bewusstheit versagen, die mit unserer Innovationskraft Schritt zu halten vermag und uns zu verantwortungsbewussten Entscheidungen führt.

Aus diesem Dilemma einen Ausweg zu finden ist die Motivation unserer Arbeit im Projekt Kairos. Unsere erzählkünstlerische Arbeit soll an der Schnittstelle von Wissenschaft, Kunst und Spiritualität gesellschaftliche Wirkung entfalten. Wir wollen Menschen dazu ermächtigen, ihre Handlungen mit ihrem Bewusstsein für angemessenes und verantwortungsvolles Handeln in Einklang zu bringen.

Die Auseinandersetzung mit Mythen wird uns auf einen ausgedehnten Streifzug durch unbekanntes Gebiet führen. Denn je mehr wir versuchen, Mythen mit dem Verstand zu fassen, desto weniger bleibt von ihrem Sinn übrig. Wir werden uns also in der kommenden Zeit mit vielen verschiedenen Perspektiven auf Mythen vertraut machen. Nach und nach wird so ein inneres Bild davon entstehen, welche Art von Geschichten das sind und wie wir erzählerisch mit ihnen umgehen können und sollten.

 

Die ewigen Lügengeschichten

Dass wir in der modernen Gesellschaft keine Mythen mehr haben, weil wir uns von der Vernunft leiten lassen, ist eine fixe Idee, die selbst zum Mythos geworden ist: Sie entspricht zwar nicht den Tatsachen, aber sie wirkt und die moderne Gesellschaft glaubt daran.

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Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf na­chhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lo­kalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.

Weiterführende Infos

  • Diskussionsveranstaltung mit Bürgerinnen und Bürgern zu Pro und Contra einer Impfpflicht zur Überwindung der Covid-19-Pandemie

  • Karen Armstrong: Eine kurze Geschichte des Mythos. Berlin 2005

  • Joseph Campbell: The Power of Myth. New York 1988

  • Graeber / Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Stuttgart 2022

  • Fritjof Capra: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. Bern 1983

  • Rüdiger Sünner: Wildes Denken. Europa im Dialog mit spirituellen Kulturen der Welt. Zürich 2020

  • Geseko von Lüpke: Politik des Herzens. Gespräche mit den Weisen unserer Zeit. Uhlstädt-Kirchhasel 2003

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