Die Doppelnatur

Du bist, was dein tiefes, treibendes Begehren ist.
Wie dein Begehren ist, so ist dein Wille.
Wie dein Wille ist, so ist dein Tun.
Wie dein Tun ist, so ist dein Schicksal.

Adolf Bastian war dort, C. G. Jung und übrigens auch Herrmann Hesse. Alle kamen mit wichtigen Impulsen für ihre Arbeit zurück. Was haben sie dort gefunden? Ist es auch für uns Erzähler*innen interessant? Wie kommen wir da hin? Der Weg nach Indien ist weit – physisch und kulturell, äußerlich und innerlich.

In den 1970ern gab es den berühmten „Hippie-Trail“. Wer mit dem VW-Bus nach Indien unterwegs war, konnte Stops in Beirut, Teheran, Kandahar und Kabul machen und war dann schon eingestimmt, wenn östlich von Lahore die indische Grenze in Sicht kam.
Wer sich heute auf diesen Weg macht, hat allerdings gute Chancen, bereits in Beirut pulverisiert zu werden. Der Hippie-Trail ist zum Pfad der Gewalt geworden, die halb Asien verseucht.

Allerdings müssen wir gar nicht nach Indien: Das, wonach wir suchen, ist bereits vor mehreren Jahrzehnten in Europa angekommen.
Aus nahezu allen Kulturen, Kontinenten und Zeitaltern lieferte die Philosophie mehr oder weniger erhellende Gedanken zum Thema Mythen. Wer sich allerdings mit der indischen Philosophie auseinandersetzt, wird richtig staunen: In Bezug auf Mythen liefert sie uns Antworten auf viele Fragen – sogar auf Fragen, auf die wir womöglich gar nicht gekommen wären.

Die klassische indische Philosophie beschäftigt sich mit einem bemerkenswerten Gegensatzpaar, nämlich dem Ziel, in der Welt etwas zu erreichen – und dem Ziel, sich davon zu befreien, irgendetwas erreichen zu müssen.

Wenn du in der Welt erfolgreich sein willst, bewegst du dich immer in einem Spannungsfeld, und zwar zwischen

  • kāma (Liebe und Lust – erotische Interessen: hier geht’s um Genießen)
  • artha (Macht und Erfolg – aggressive Interessen: hier geht’s um Beherrschen) und
  • dharma (Ordnung, Normen und Moral)


Die Welt ist voll von unzähligen Geschichten darüber, wie konfliktgeladen erotische und aggressive Interessen sind; schon für sich allein genommen und erst recht, wenn sie sich überschneiden. Damit nun nicht alles drunter und drüber geht, haben so ziemlich alle Kulturen zu jeder Zeit und auf allen Erdteilen irgendwelche Regeln entwickelt, welches Verhalten die Gesellschaft unterstützt, welches sie toleriert und welches sie ablehnt: Eben dharma.

Das ist aber wie gesagt nur die eine Seite der Medaille. Denn andererseits legte man in Indien auch Wert darauf, den Geist davon zu befreien, genießen, gewinnen oder rechthaben zu müssen. Die klassischen indischen Ausdrücke dafür sind die folgenden:

  • moksha (Befreiung)
  • bodhi (Erleuchtung) und
  • nirvāna (das „Abklingen des Windes der Leidenschaft“)

Es ist kaum zu glauben, dass zwei so unterschiedliche Lebenshaltungen in einer einzigen Philosophie vereinigt sind, aber im alten Indien haben sie das anscheinend geschafft – jedenfalls gedanklich.

Übrigens hatten wir bereits das Vergnügen, dieses seltsame Gegensatzpaar kennenzulernen (vgl. Die Weitgereisten): Wie man in der Welt erfolgreich wird, hängt immer davon ab, wo und wie man lebt; kāma, artha und dharma sind also abhängig von Ort und Zeit. Profis nennen sowas „lokalspezifisch“, im Sanskrit nannte man es deshī – und Adolf Bastian nannte es „Völkergedanken“!
Mit Moksha, bodhi und nirvāna streben Menschen aber auch nach dem zeitlosen Universellen; im Sanskrit heißt das mārga und Bastian nannte es „Elementargedanken“.

Wer fehlt uns jetzt noch? C. G. Jung war doch auch in Indien (vgl. Die großen Unbekannten)!
Und natürlich war er auch auf dieses faszinierende Gegensatzpaar gestoßen. Deshī und mārga bezeichnete er als „komplementäre seelische Typen“, von denen der eine die Haftung an das Orts- und Zeitgebundene und der andere das Streben nach dem zeitlosen Allgemeinen vertritt.
Jung zufolge haben sich diese zwei seelischen Typen in der menschlichen Geschichte vom Urbeginn an im Diskurs gegenübergestanden. Im Verlauf der Jahrtausende führte das von engen zu weiten Horizonten, von einfachen zu komplexen Ordnungen, von dürftigen zu prächtigen Kunstwerken – eine Entfaltung im zeitlichen Ablauf, die wir Kultur nennen.

Das Gegensatzpaar deshī und mārga ist genau das, was Mythen innerhalb einer Kultur sprachlich verkörpern: Sie liefern uns Hinweise darauf, wie wir in der Welt erfolgreich leben können – und andererseits, wie wir uns vom Glauben befreien können, erfolgreich sein zu müssen, um glücklich zu sein.

Indem wir diese bereits ein paar tausend Jahre alten Gedanken nachvollziehen, will ich übrigens nicht die indische Philosophie „verklären“. Was darin zum Beispiel gar nicht vorkommt, ist der freie Wille – die Verantwortungsbereitschaft und Mündigkeit jedes Individuums, die Welt in der wir leben bewusst zu gestalten. Das sind Gedanken, die für uns westlich geprägte Menschen sehr wichtig sind und im alten Indien keine Rolle gespielt haben.
Und trotzdem ist die indische Philosophie eben außerordentlich hilfreich, wenn wir uns ein tieferes Verständnis davon erarbeiten wollen, welche Art von Geschichten die Mythen eigentlich sind und wie wir erzählerisch mit ihnen umgehen können.

Somit hilft uns die philosophische Perspektive, Mythologie als eine Kunstform zu verstehen, die über die Geschichte hinaus auf das Zeitlose der menschlichen Existenz verweist und uns dabei hilft, jenseits des chaotischen Flusses zufälliger Ereignisse schemenhaft den Kern der Wirklichkeit zu erfassen.

Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf na­chhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lo­kalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.

Weiterführende Infos

  • Joseph Campbell: Die Masken Gottes. Band 2: Mythologie des Ostens.
    Basel 1991

  • Eknath Easwaran (Hrsg.): Die Upanischaden. München 2008

  • Karen Armstrong: Eine kurze Geschichte des Mythos. Berlin 2005