Die ewigen Lügengeschichten
Der größte Feind der Erkenntnis ist die Illusion des Wissens.
Fabian Scheidler
Ja, was ist denn eigentlich ein Mythos? Vor ein paar Jahren hätte ich voller Überzeugung eine Antwort rausgehauen. Heute bin ich da etwas vorsichtiger. Inzwischen habe ich nämlich verschiedene Perspektiven auf das Thema Mythologie kennengelernt – und jede sieht ganz anders aus. Jeder Blickwinkel bringt andere und neue Farben und Facetten zum Leuchten. Das ist einerseits faszinierend, andererseits endet das schnell in Verwirrung, wenn du dich zum ersten Mal mit dem Thema auseinandersetzt.
Nun ist das hier ja eine Erzählschule und wir bilden Menschen zu Geschichtenerzähler*innen aus. Also wollen wir auch eine gewisse Orientierung bieten, was Mythen sind, wie damit erzählerisch gearbeitet werden kann, und was man vielleicht besser bleiben lassen sollte. Die Ungeduldigen unter euch darf ich auf Kathinkas geschliffene Erklärung verweisen: „Mythen hauen’s dir einfach voll um die Ohren“.
Das kann ich bestätigen; aber der Wanderweg zu dieser Erkenntnis ist lang und spärlich markiert. Diese Überlegung führte uns dazu, das Mythologieprojekt „Kairos“ aufzusetzen.
Wie ich im letzten Artikel beschrieben hatte, werden wir uns nun mit verschiedenen Perspektiven auf Mythen vertraut machen. Nach und nach wird so ein inneres Bild davon entstehen, welche Art von Geschichten das sind und wie wir erzählerisch mit ihnen umgehen können und sollten.
Die ewigen Lügengeschichten
Wenn wir uns mit verschiedenen Perspektiven auseinandersetzen wollen, kommen wir nicht drum herum, dort anzufangen, wo wir gerade sind: Symbolisch wie buchstäblich vor der eigenen Haustür. Den ersten Blick auf Mythen werfen wir durch die Brille unserer eigenen, heutigen Kultur. Wenn wir hauptsächlich hier leben und erzählen, müssen wir uns mit der Perspektive unseres kulturellen Mainstreams auseinandersetzen.
Das gibt jetzt einen erheblichen Dämpfer – da müssen wir mal tapfer sein. Denn in unserer modernen westlichen Kultur sind Mythen nicht gerade angesehen. Die Definition von Mythen liegt irgendwo zwischen „nicht ernstzunehmenden Fantasien“ und „irrationalen Lügengeschichten“. Geduldet werden sie höchstens als Kunstform, am liebsten sorgfältig pädagogisch eingerahmt und erst ab 18 Jahren, weil da so viel Sex und Gewalt vorkommt.
Diese Haltung hängt mit unserem Weltbild zusammen, das sich mit der Zeit entwickelt und verbreitet hat. In ihrer etwa 300.000-jährigen Geschichte hat die Menschheit schon einige Weltbilder gehabt; deshalb wissen wir auch, dass das Entstehen und Vergehen von Weltbildern ein langer Prozess von mehreren hundert oder tausend Jahren ist. Solche Entwicklungen verlaufen nicht kontinuierlich, sondern in Sprüngen. Der letzte große Sprung in der Entwicklung des Weltbildes unserer eigenen Kultur fand während der Epoche der Aufklärung statt.
Ich denke, also bin ich
Dieser Entwicklungssprung wird gerne verkürzt und vereinfacht durch das berühmte Zitat des französischen Philosophen René Descartes dargestellt: „Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich.“
Seit der Aufklärung sind wir im Westen davon überzeugt, dass die Welt in etwa wie ein mechanisches Uhrwerk funktioniert, dessen Ursache- und Wirkungszusammenhänge sich objektiv mit dem logischen Verstand eines distanzierten Beobachters (und nur so) erschließen lassen.
Diesem „cartesischen“ Weltbild zufolge ist außerdem der Mensch das einzige Lebewesen mit Verstand und Bewusstsein und der Fähigkeit, Gefühle zu empfinden. Das Licht der Aufklärung und der Vernunft steht dem mythischen Dunkel gegenüber, was man als Reste der wilden Natur zu verstehen hat, die zu überwinden die Aufgabe des Menschen ist, wenn er sich weiterentwickeln will.
In diesem Weltbild stellt der Mensch also etwas ganz besonderes dar – und gehört nicht so richtig zur Welt dazu. Mensch und Welt, Kultur und Natur, Zivilisation und Wildnis, Körper und Seele, Materie und Geist, Außensicht (Objektivität) und Innensicht (Subjektivität): Diese seltsame Aufspaltung bezeichnete der französische Ethnologe Philippe Descola als „die Große Trennung“.
„Der Mensch muss endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, das er seinen Platz […] am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen“, schrieb 1970 der Biochemiker und Nobelpreisträger Jacques Monod und bringt damit die Perspektive des modernen westlichen Mainstreams auf den Punkt.
Nochmal kurz zur Erinnerung: Das ist keine Tatsache, sondern ein Weltbild, das übrigens längst nicht von allen Kulturen auf der Welt geteilt wird. Und wenn du Mythen erzählen möchtest, macht es Sinn, wenn du dich mit den Grundzügen des geistigen Nährbodens auseinandersetzt, auf den sie wahrscheinlich treffen werden.
Der Stoff aus dem wir sind
Vielleicht ist es auch hilfreich, die Epoche und die Ideen der Aufklärung von dem Weltbild zu unterscheiden, das sich daraus entwickelt hat und gut vierhundert Jahre bis heute durchgeschleift und nie mehr wesentlich verändert wurde. In gewisser Weise wurden die zentralen Ideen von der Ironie des Schicksals geschlagen: Indem sie sich so vehement gegen Mythen engagierte, wurde die Aufklärung selbst zum Mythos, der heute noch immer aktiv ist.
Das erkennen wir beispielsweise an der Rolle der Wissenschaft. Seit etwa hundert Jahren produziert diese Domäne des rationalen Verstandes praktisch am laufenden Band Erkenntnisse, die mit dem vorherrschenden Weltbild nicht übereinstimmen: Quantenphysik, Atmosphärenchemie, Biologie, Systemtheorie und ganze neue Wissenschaftszweige wie z. B. die Ökologie zeigen, dass die Welt kein Uhrwerk ist und auch nicht aus einem Haufen getrennter Einzelteile besteht. Dennoch segeln wir, allem Fortschritt zum Trotz, mit einer 400 Jahre alten technokratischen Ideologie durch das 21. Jahrhundert.
Mit dieser befremdlichen Tatsache hat sich Fabian Scheidler in seinem Buch „Der Stoff aus dem wir sind“ auseinandergesetzt. Er bezeichnet diese Ideologie als eine weitgehend unreflektierte „Denk- und Handlungsstruktur, die tief in die gesellschaftlichen Institutionen, Gewohnheiten und unsere Erzählungen von der Welt eingeschrieben ist. Mit anderen Worten: Sie ist nur zu einem kleinen Teil explizit, zu einem großen Teil dagegen implizit und damit nicht auf den ersten Blick erkennbar.“
Dann beschreibt er sehr anschaulich die drei zentralen Ideen:
- Das Mess- und Zählbare hat einen höheren Realitätsstatus als die erlebten Qualitäten unserer Wahrnehmung. Was gemessen und gezählt werden kann, ist objektiv vorhanden, die qualitativen Wahrnehmungsinhalte dagegen sind bloß „subjektiv“ in unseren Köpfen.
- Die Welt besteht aus zerlegbaren Einzelteilen und lässt sich entsprechend auch beliebig neu zusammenbauen („Lego-Welt“).
- Die Welt gehorcht im Wesentlichen linearen und deterministischen Ursache- Wirkungs-Zusammenhängen und kann daher planmäßig gesteuert werden.“
Und spätestens jetzt ist klar, warum eine Gesellschaft, die den Rationalismus regelrecht vergöttert, nichts von Mythen hält: In allen drei Positionen vertreten sie genau die gegenteiligen Auffassungen. Das kann ja nur Teufelszeug sein.
Risse im Gebälk
Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Die Vernunft als universelle Urteilsinstanz bietet offensichtlich nicht das nötige Maß an Orientierung. Imperialismus, Kolonialismus, zwei heiße und ein kalter Weltkrieg, Rassismus, Sexismus, Artensterben und eine selbst verursachte Klimakrise, die uns womöglich bald alle von der Platte wischt, machen das deutlich genug.
Wie ich schon im Artikel „Erzählen oder Schweigen“ geschrieben hatte, müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, dass die westliche Zivilisation auf einem grotesken Nebeneinander von Menschenrechten, Völkermord, Humanismus, Ausbeutung, Freiheit und Unterdrückung beruht. Wenn wir uns als erwachsene Menschen die Frage stellen, wie wir in dieser Kakophonie ein verantwortungsbewusstes Leben führen können, werden wir garantiert keine einfache Antwort finden.
Und schon sind die Mythen wieder im Spiel, denn sie bieten Orientierung und unterwerfen sich nicht dem Zwang von Fakten. Dass wir in der modernen Gesellschaft keine Mythen mehr haben, weil wir uns von der Vernunft leiten lassen, ist zum Beispiel eine Idee, die selbst zum Mythos geworden ist: Sie entspricht zwar nicht den Tatsachen, aber sie wirkt und die moderne Gesellschaft glaubt daran.
„Wenn Verhalten, das zum Wahnsinn führt, in einer Gesellschaft als normal gilt, lernen die Menschen um das Recht zu kämpfen, sich daran zu beteiligen“, schrieb der scharfzüngige Philosoph Ivan Illich.
Mainstream und Erzählkunst
So sehen im Großen und Ganzen die Hintergründe und Voraussetzungen aus, wenn wir hier und heute Mythen erzählen wollen. Mag sein, dass das zunächst nicht ermutigend klingt. Aber die Perspektive des modernen Mainstreams hilft uns, Herkunft und Textur unseres Weltbildes zu verstehen und zu erkennen, welche zentrale Rolle die Mythen eigentlich spielen – allem Schaum an der Oberfläche zum Trotz.
Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf nachhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lokalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.
Weiterführende Infos
- Philippe Descola: Jenseits von Kultur und Natur. Berlin 2021
- Fabian Scheidler: Der Stoff aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen. München 2021
- Fritjof Capra: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. Bern 1983
- Geseko von Lüpke: Politik des Herzens. Gespräche mit den Weisen unserer Zeit. Uhlstädt-Kirchhasel 2003
- Rüdiger Sünner: Wildes Denken. Europa im Dialog mit spirituellen Kulturen der Welt. Zürich 2020