Die großen Unbekannten
Der Traum ist verpersönlichter Mythos, der Mythos entpersönlichter Traum und beide sind auf die gleiche Weise symbolisch für die Dynamik der Psyche.
C. G. Jung
„Küken, denen die Eischale noch am Schwanz klebt, spritzen ins Versteck, wenn ein Falke über sie hinfliegt, nicht aber, wenn der Vogel eine Möwe oder Ente, ein Reiher oder eine Taube ist. Auch wenn die Holznachbildung eines Falken an einem Draht über ihr Gehege gezogen wird, reagieren sie, als ob diese lebendig wäre – solange sie nicht rückwärts gezogen wird; dann erfolgt keine Reaktion.“
Spannende Sache, keine Frage. Aber was zum Teufel veranlasste einen renommierten Mythenforscher wie Joseph Campbell dazu, sich über die Reaktion von Hühnern Gedanken zu machen?
Campbell setzte sich mit dem Rätsel des „ererbten Bildes“ auseinander und das Experiment mit den Küken war tatsächlich eine sehr anschauliche Sache. „Auch wenn alle Falken der Welt verschwänden, würde ihr Bild immer noch in der Seele des Kükens schlummern, ohne doch jemals wachgerufen zu werden, es sei denn durch irgendeine zufällige Manipulation, zum Beispiel eine Wiederholung des schlauen Experimentes mit dem Holzfalken am Draht“, schreibt er.
Wenn wir von der Beziehung zwischen Falken und Hühnern nichts wüssten, wäre die plötzliche Reaktion dieser Tiere völlig unerklärlich: Auf die Schatten echter, lebendiger Vögel wie Enten oder Tauben reagieren die Hühner gar nicht, das „Kunstprodukt“ löst aber sehr heftige Reaktionen aus.
Die Archetypen des Unbewussten
Natürlich legt das die Frage nahe, ob man solche Phänomene auch bei uns Menschen beobachten kann. Rätselhafte „ererbte Bilder“ hatte ja bereits Adolf Bastian in den Mythen verschiedenster Regionen und Zeitalter festgestellt, wie wir im letzten Artikel (Die Weitgereisten) nachvollzogen haben.
Einige Jahrzehnte später griff die moderne Psychologie diesen Faden wieder auf: Der schweizer Psychologe Carl Gustav Jung, der als Begründer der Tiefenpsychologie gilt, beschäftigte sich intensiv mit Bastians Ideen und entwickelte daraus seine berühmte Theorie der „Archetypen des Unbewussten“.
Dieser Begriff taucht immer mal wieder auf – zum Beispiel in Tarotkarten, wenn von der Seherin, dem Krieger oder dem Kelch die Rede ist. Das sind zwar tatsächlich archetypische Symbole, allerdings hatte C. G. Jung da etwas viel Größeres im Sinn und das ist gar nicht so einfach zu erklären. Vielleicht hilft da ein seltsamer Vergleich:
Im Chemieunterricht haben wir irgendwann mal Salzwasser auf eine Glasplatte getropft und gewartet, bis das Wasser verdunstet war. Zurück blieben Natriumchlorid-Kristalle (also Salz), die eine ganz bestimmte Kristallstruktur hatten.
Statt Natrium und Chlorid könnte man zum Beispiel auch Kupfer und Zink zusammenbringen. Dann entsteht Messing; das hat ebenfalls eine Kristallstruktur, aber eine andere.
Als Schüler fand ich das eigentlich total langweilig: Die Kristallstrukturen waren im Lehrbuch aufgezeichnet; man wusste ja immer schon vorher, was bei den Versuchen herauskam.
Jung fand sowas offenbar gar nicht langweilig, im Gegenteil: Seine „Archetypen des Unbewussten“ muss man sich in etwa wie Kristallstrukturen vorstellen – nur nicht chemisch, sondern psychisch.
Im Gegensatz zur Chemie gibt es in der Psychologie allerdings kein Periodensystem, in dem alle Elemente säuberlich aufgelistet sind. Jung hat zwar einige Archetypen erforscht, aber auch klargestellt, dass das längst nicht alle sind. Ihm zufolge handelt es sich vielmehr um ein offenes Konzept. Wir wissen also nicht, wie viele und welche Archetypen es genau gibt.
Das macht die ganze Sache zwar etwas schwammig, aber als Erzähler*innen stört uns das nicht. Wichtig ist für uns das Grundkonzept, demzufolge die menschliche Psyche im Wesentlichen auf der ganzen Welt gleich ist. Die Psyche wird als innerliche Erfahrung des menschlichen Körpers verstanden, der ebenfalls im Wesentlichen auf der ganzen Welt gleich ist – mit den gleichen Organen, den gleichen Instinkten und Impulsen, den gleichen Konflikten und Ängsten. Aus dieser gemeinsamen Basis entspringt, was Bastian „Elementargedanken“ und Jung „Archetypen des Unbewussten“ nannte.
In diesem Punkt unterschieden sich übrigens auch die Perspektiven der beiden berühmten Psychologen Sigmund Freud und C. G. Jung. Freud beschäftigte sich mit „Komplexen“, die er als eine Sammlung von unterdrückten traumatischen Erfahrungen eines individuellen Menschenlebens verstand. Jung beschäftigte sich mit „Archetypen“, die er als seelische Manifestationen des Körpers und seiner Organe verstand.
Das Freud’sche Unbewusste ist sozusagen biografisch und somit individuell, die Jung’schen Archetypen sind biologisch und somit universell.
Archetypen in den Mythen
Bis hierher war das alles sehr theoretisch. C. G. Jung gelang es aber im Rahmen seiner therapeutischen Arbeit tatsächlich, die Archetypen mit Hilfe von Metaphern und Symbolen direkt „anzusprechen“. Und damit sind wir als Geschichtenerzähler*innen endlich wieder auf dem heimischem Boden der Mythen. Motive wie Geburt, Pubertät, Hochzeit und Tod tauchen in unzähligen Geschichten auf. Krieger, heilkundige Frauen, Mütter oder auch Gegensatzpaare wie Sonne und Mond, Himmel und Erde, Feuer und Wasser – all das sind archetypische Symbole. Die viel diskutierte Heldenreise ist eine archetypische Struktur: Ein universeller menschlicher Entwicklungsprozess mit Symbolen wie Schwellen, Helfern, Prüfungen und so weiter.
Man könnte fast sagen, Archetypen sind die „magischen Werkzeuge“ der Erzählenden weltweit. Denn Symbole und Metaphern wie wir sie in Mythen, in der Poesie oder überhaupt in der Kunst verwenden, reichen sehr weit über die vom Verstand geprägte Alltagssprache hinaus.
In der Nautik gibt es den schönen Begriff der „Kimm“. Das ist die Horizontlinie, wo sich bei klarer Sicht Himmel und Erde zu berühren scheinen. Weiter kann man nicht schauen. Wir wissen zwar, dass die Welt dort nicht zu Ende ist, aber es hilft ja nix: Ohne Hilfsmittel kann man trotzdem nicht weiter schauen.
In gewisser Weise gilt das auch für die Sprache. Und Symbole und Metaphern sind dann eben die Hilfsmittel, mit denen wir sprachlich trotzdem „hinter die Kimm“ schauen können, obwohl das eigentlich nicht geht.
Aus solchen und ähnlichen Gedanken entstand einige Zeit nach C. G. Jung die sogenannte „Gestaltpsychologie“ und später die „Gestalttherapie“ nach Laura und Fritz Perls. Darin wird ausdrücklich betont, dass man (in diesem Fall psychische) Systeme nicht durch die Analyse ihrer Einzelteile verstehen kann.
Das berühmte Beispiel ist die Melodie: Mag sein, dass sie aus Tönen besteht, aber das reicht zum Verständnis der Melodie nicht aus. Wenn die Reihenfolge oder die Tonlage verändert wird, sind die Töne zwar die gleichen, aber die Melodie ist eine andere. Deshalb wurde die Melodie auch als übergeordnete „Gestalt“ bezeichnet.
Die Grenzen der Sprache
Egal ob Kristallstrukture, Archetypen oder Melodien – immer wieder stoßen wir auf das gleiche Problem: Sie alle bestehen aus Beziehungsstrukturen, sind begrifflich so schwer zu fassen – und trotzdem so aussagekräftig.
Genau das ist der Modus, in dem Mythen funktionieren: Denken in Beziehungsstrukturen ist mythisches Denken. Bis zu einem gewissen Grad umgehen die Symbole oder Gestalten den logischen Verstand und sprechen direkt mit unserer Seele.
Somit ist uns auch die Perspektive der Psychologie eine große Hilfe im Verständnis von Mythen: Sie erinnert uns an die universelle und geradezu magische Fähigkeit der menschlichen Sprache, mit Hilfe archetypischer Symbole weit über ihre eigenen Grenzen hinauszureichen.
Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf nachhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lokalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.
Weiterführende Infos
- G. Jung: Archetypen. Urbilder und Wirkkräfte des kollektiven Unbewussten. Ostfildern 2018
- Joseph Campbell: Die Masken Gottes. Band 1: Mythologie der Urvölker, Basel 1991
- Joseph Campbell: Der Heros in Tausend Gestalten. Frankfurt am Main 1953
- Perls, Hefferline, Goodman: Gestalttherapie. Grundlagen der Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung. Stuttgart 2019