Therapeutisches Erzählen
Die Kunst des Geschichtenerzählens geht auf die Anfänge menschlicher Kultur zurück. Mitunter kommt sie sehr subtil daher und wird im medienüberfluteten Alltag oft kaum wahrgenommen.
Dass sie deshalb keine Bedeutung hätte, ist ein gefährlicher Irrtum. Geschichten beflügeln unsere Imagination, nähren unser Verständnis von Sprache und können uns in Krisenzeiten Halt und Orientierung bieten.
In unserer Reihe The Storyteller’s Way lassen wir passionierte Erzähler*innen zu Wort kommen, die ihre Berufe kreativ zu Anwendungsfeldern der Erzählkunst umgestaltet und sie dadurch zur Entfaltung gebracht haben.
Nancy Mellon
Den Ruf, Erzählerin zu werden, hörte ich zum ersten Mal, als ich anfing, an einer amerikanischen Highschool zu unterrichten. Ich bin nicht mit Geschichten aufgewachsen, was mich sensibel für die vielen Menschen gemacht hat, die nie mit der Tradition des Erzählens bekannt wurden und die das warme Gefühl schöner Erinnerungen nicht kennen, mit wunderbaren Geschichten groß geworden zu sein.
Als ich Lehrerin wurde, entdeckte ich meine große Freude daran, Gedichte und Geschichten im Klassenzimmer vorzulesen und laut zu sprechen. Ich bemerkte, dass in diesen Momenten meine Stimme einen anderen Klang bekam und sich von jener Stimme unterschied, mit der ich aufgewachsen war: Plötzlich war die Musik der Sprache zu hören.
Als ich von der Waldorfschulbewegung hörte, entschied ich mich nach einem Jahrzehnt Literaturunterricht für eine Ausbildung zur Waldorflehrerin am Emerson College in England. Waldorfschulen haben eine wunderbare Erzähltradition. Ich habe eine ganze Reihe von Lehrer*innen an der nahe gelegenen Michael Hall School beobachtet, die wirklich erstaunliche Geschichtenerzähler*innen waren. Es war das erste Mal, dass ich erfahrene Lehrerinnen hatte, die es verstanden, Geschichten für Kinder unterschiedlichen Alters mit sehr bewusster Achtsamkeit und mit großem Geschick und Ideenreichtum lebendig zu erzählen. Zu dieser Zeit begann ich zu verstehen, dass Geschichten eine sehr reale Nahrung sein können.
An der Michael Hall School assistierte ich einer wunderbaren holländischen Erzieherin. Englisch war nicht ihre Muttersprache und so bat sie mich, Geschichtenerzählerin für die Kinder zu sein. Ab sofort saß ich jeden Tag auf dem großen goldenen Stuhl und erzählte die Geschichten. Teilweise war ich in dieser neuen Rolle sehr gefordert. Aber es war auch toll und fröhlich. Wie jeder Mensch, der etwas Neues anfängt, musste ich lernen und üben. Auf meinem langen Schulweg erfand ich Geschichten über Spinnen, Vögel und alles, was den Kindern und mir in unserer natürlichen Umgebung begegnete. Geboren und aufgewachsen in Amerika, hatte ich keine Ahnung von Königen, Feen, Zwergen und Gnomen und all dem – aber allmählich erweiterte sich meine Vorstellungskraft angesichts der ständigen Möglichkeiten, mit dem Erzählen zu experimentieren, und wegen meiner Liebe zu den Kindern.
Erzählen für die Resilienz
Während meiner frühen Jahre als Lehrerin bin ich vielen verschiedenen Umständen und Verhaltensweisen begegnet. Schließlich kehrte ich in die USA zurück, um Klassenlehrerin zu werden und als Waldorflehrerin jeden Tag Geschichten im Klassenzimmer zu erzählen. Ich tauchte zwangsläufig auch in einer gewissen Tiefe in die Familiensituationen ein, die Kinder von zu Hause in den Unterricht mitbringen. Nach und nach ging mir auf, mit welchen köstlichen Zutaten die alten Geschichten Kinder nähren und ihnen dabei helfen können, einen Umgang mit den sehr realen Herausforderungen aller Art zu entwickeln. Kinder brauchen Bildsprache!
Auch ich verhielt mich oft wie ein Kind, das Geschichten entdeckte, aber da ich bereits einige Jahre Studium in Literatur und Sprache auf akademischem Niveau hinter mir hatte, war eben auch dieser Teil meines Gehirns wach, während ich den Prozess des Geschichtenerzählens für mich entdeckte. Märchenerzählen war für mich eine ganz neue Welt und ich wurde immer neugieriger, also fing ich an, mich immer intensiver mit Märchen zu beschäftigen. Ich erfuhr, dass unzählige Geschichten ihren Ursprung im Fernen Osten hatten und bevor sie uns erreichten, entlang ihrer Reiserouten durch verschiedene Kulturen und Sprachen zirkulierten und sich an die europäischen Kulturen anpassten.
Ich begann, die tatsächlichen sozialen Bedingungen und politischen Realitäten genauer zu betrachten, um das Gesamtbild der Versionen einer Geschichte zu verstehen, die unzählige Erzähler*innen inspiriert haben mag. Wie oft mag sie unter dem nächtlichen Sternenhimmel erzählt worden sein, während die Kamele ruhten und die Menschen sich um die Lagerfeuer versammelten? So viele der großartigen Geschichten haben einen traumhaften und heilenden Aspekt für die sehr realen und oft schrecklichen Zustände, die den Erzähler*innen bekannt waren.
Ich begann, Kurse für Erwachsene anzubieten, die Geschichten schreiben und teilen wollten, die sich echt und unterstützend anfühlten. Gemeinsam haben wir unzählige Wege gefunden, uns herausfordernden Umstände zu stellen und sie in Geschichten zu formen, zur Stärkung der ureigenen Resilienz. Viele dieser Geschichten habe ich in meinem Buch „Storytelling and the Art of Imagination“ gesammelt, das kürzlich unter dem neuen Titel „Healing Stories“ erschienen ist.
Die heilende Kraft von Geschichten
Dann begann ich eine Ausbildung in Kunsttherapie. Das Training umfasste Bewegung, Musik, Malen und Zeichnen, was für mich nicht neu war. Doch in der Ausbildung lernte ich auch gewisse Beratungskompetenzen, die sich deutlich von denen in der Lehre unterscheiden. Außerdem war ich sehr daran interessiert, die verschwommenen Grenzen zwischen Kunst und Therapie zu entdecken. Viele Jahre Arbeit zwischen Dunkelheit und Licht, zwischen Nacht und Tag, Arbeit an den Schwellen zwischen den verschiedenen Farben, von Rot zu Violett, von Gold zu Grün, von den Feuerfarben in die Wasserwelt – mit all dem habe ich gearbeitet, all die subtilen Farbwechsel der natürlichen Welt sind auch ein Vokabular des Geschichtenerzählens und der Heilkunst.
Schließlich wurde ich von einem Zentrum für Heilkunst in Boston eingeladen, einen Erzählkurs mit dem Titel „Creative Mind“ anzubieten. Ich führte Erwachsene mit heftigen chronischen Gesundheitsproblemen durch den Entstehungsprozess einer Geschichte. Wir fingen mit dem positiven Ende an und erschufen dann eine heldenhafte Figur, die auf eine Reise ging, nicht unähnlich den Helden in den besten Geschichten. Mit großer Überraschung konnten viele, die an diesen „Creative Mind“-Sitzungen teilnahmen, einander helfen, eine Geschichte zu entwickeln, die ihren Krankheitsprozess darstellte. Der Prozess des Geschichtenerzählens schuf eine Art „Heilungsmatrix“, innerhalb derer sie selbstständig kreativ arbeiten und sich gegenseitig helfen konnten. Es war oft wirklich erstaunlich, welche Heilung Menschen erlebten, die an diesen Sitzungen teilnahmen, und ich nahm mir vor, das mal genauer zu betrachten…
Im Lauf der Jahre haben sich meine Experimente mit dem Geschichtenerzählen als eine Form der Heilkunst in Bücher verwandelt, um das zu teilen, was ich gelernt habe.
Meine Arbeit zog immer mehr therapeutische Interessierte an, die erleben wollten, wie die Kunst des Geschichtenerzählens Menschen hilft, ihre täglichen Herausforderungen und Gesundheitsprobleme auf eine völlig neue Art und Weise zu bewältigen. Während der Kurse und Workshops am Emerson College und auf der ganzen Welt arbeiteten unzählige Gruppen zusammen, um die heilende Kraft des Geschichtenerzählens zu erfahren. Ich ermutigte die Teilnehmenden, zusammenzuarbeiten und einander füreinander präsent zu sein. Therapeutische Begegnungen können zu unglaublichen gemeinsamen Abenteuern werden, bei denen Herz und Seele tief inspiriert werden.
„Body Eloquence“
Allerdings war mir noch immer nicht ganz klar, wie genau Geschichten das Denken, die Vorstellungskraft und die Gefühlswelt anregen können, um auch physiologische Prozesse positiv zu beeinflussen. Manchmal nimmt das Leben seltsame Wendungen und durch eine solche Wendung fand ich mich eines Tages in einem sehr ungewöhnlichen Yogastudio wieder. Ich war bereits fünfzig Jahre alt und hatte noch nie zuvor irgendetwas mit Yoga zu tun gehabt. Doch hier lernte ich zu meinem Erstaunen, dass der Prozess des Geschichtenerzählens, mit dem ich schon so oft gearbeitet hatte, eine direkte und unmittelbare Verbindung zu spezifischen organischen Mustern von Krankheit und Gesundheit hatte! Hier lernte ich, dass die Physiologie mit Seele und Geist mindestens ebenso lebendig verbunden ist wie mit Blut und Sauerstoff.
Immer wieder arbeitete ich mit Ashely Ramsden, dem Gründer der School of Storytelling am Emerson College in Sussex, zusammen, um die wechselseitige Abhängigkeit zwischen bestimmten Geschichten und Gesundheitszuständen zu erforschen und zu dokumentieren. Ashley hat die Welt bereist und verfügt über ein unglaublich reichen Schatz an Geschichten. So haben wir über mehrere Jahre Geschichten identifiziert, die mit Herz, Niere, Verdauung und so weiter in Resonanz stehen. Diese Forschung führte zu vielen Kursen und einem neuen preisgekrönten Buch mit dem Titel „Body Eloquence“.
Die Zukunft des Erzählens
Ich bin sicher, dass das Erfinden und das Erzählen von Geschichten heilsame Künste sind. Gut gesprochene Geschichten bauen Lebenskräfte auf. Spontanes Geschichtenerzählen ähnelt dem Träumen, doch es weckt gewisse Heilungsprozesse in uns auf. Krankheiten reagieren direkt auf die Energie des schöpferischen Selbst und seinen Drang nach Gesundheit, sowohl auf körperlicher als auch auf emotionaler, mentaler und spiritueller Ebene.
Was in weisen Mythen und Märchen vor sich geht, nährt die Widerstandskraft. Seit Beginn der Pandemie gehe ich den Weg des Geschichtenerzählens als Heilkunst weiter. George MacDonald, ein großartiger Erzähler, der im Schottland des 19. Jahrhunderts lebte, schildert lebhaft die zellulären Aktivitäten des Immunsystems, aber vollständig durch die metaphorische Sprache der Geschichte. Die Lektüre seines Buchs „Die Prinzessin und Curdie“ ist sehr empfehlenswert!
Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf nachhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lokalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.