The Storyteller’s Way

The Storyteller’s Way

Angewandte Erzählkunst

Wenn wir eine Biografie oder einen Lebenslauf lesen, sieht das alles ganz logisch und nachvollziehbar aus. Selbst Brüche und Krisen lassen im Nachhinein klar einen roten Faden erkennen. Mit Blick in die Zukunft verliert sich der rote Faden dann aber ziemlich schnell in einem wirren Gefussel. Das hängt damit zusammen, dass die Zukunft völlig offen ist. Im Alltag bewegen wir uns immer in einem Spannungsfeld aus Leidenschaft und Sachzwängen, aus Pflichten und Träumen.

Du kannst dieses Spannungsfeld als dualistisch wahrnehmen, das heißt: Sachzwänge verhindern, dass du deiner Leidenschaft nachgehst und wenn du träumst, vernachlässigst du deine Pflicht. Demzufolge ist deine persönliche Entwicklung eine schwierige Sache, denn das lässt dein Job nicht zu, den du auch nicht verändern oder kündigen kannst, denn irgendwie musst du ja deine Miete bezahlen und überhaupt ist es anderswo auch nicht besser, also sei zufrieden mit dem was du hast und verlagere dein Engagement besser auf die Freizeit.

Genausogut kannst du dieses Spannungsfeld auch als polar wahrnehmen, das heißt: Deiner Leidenschaft nachzugehen bedeutet, bestimmte Sachzwänge zu akzeptieren und verpflichtet bist du vor allem deinen Träumen. Demzufolge entstehen Entwicklungs- und Gestaltungsräume immer durch das Ausbalancieren deiner eigenen Bedürfnisse. Statt Verbissenheit kultivierst du Frustrationstoleranz, statt ergebener Dienstbarkeit entwickelst du eine auf Phantasie, Kreativität und Spielfreude basierende Selbstermächtigung.

Heute werden wir zu Zeugen eines grundlegenden Wandels in der Arbeitswelt: Immer mehr Menschen erkennen immer deutlicher den Unterschied zwischen Lebensstandard und Lebensqualität, schaffen sich Freiräume zur persönlichen Entwicklung und Entfaltung, stellen die Frage nach dem Sinn ihres Tuns und der Verantwortung ihres Arbeitgebers. Den Job wieder als sinnstiftenden Beruf zu erleben ist offenbar ein wachsendes Bedürfnis.

Das Gleiche trifft auch auf Geschichten zu. Sicherlich ist das Erzählen kein gewöhnlicher Beruf und mag in unserer zunehmend digitalisierten Welt seltsam anachronistisch wirken. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass die Erzählkunst tausende von Jahren überdauert hat und sich erstaunlich geschmeidig in Bedingungen einfügt, die einem ständigen Wandel unterworfen sind.

Ein Jahr lang sind wir auf die Suche gegangen und haben Menschen interviewt, deren Leidenschaft für das freie mündliche Erzählen ihrem Engagement den Weg gebahnt hat. Die inspirierenden Gespräche räumen mit dem Vorurteil auf, Geschichtenerzählen sei nur was für die Kita. Quer durch alle möglichen Berufsfelder haben wir Beispiele angetroffen, das eigene Wirken auf eine bewusste, kreative und würdevolle Art und Weise zu gestalten. Wir hoffen, damit Begeisterung zu wecken und Impulse geben zu können, sich näher mit der Kunst des freien mündlichen Erzählens auseinanderzusetzen.

Interviews

  • Trauerbegleitung
    Mathehefte mit gemalten Märchenszenen als Pendant zu den vielen Zahlen waren in der Schulzeit ein klares Indiz. Heute ist Alexandra Eyrich tatsächlich Erzählerin. Unter anderem in der Sterbe- und Trauerbegleitung bringt sie die Kunst des freien mündlichen Erzählens zur Entfaltung.
  • Therapeutisches Erzählen
    Sie war schon einige Jahrzehnte Lehrerin und Erzählerin, als Nancy Mellon ein Verständnis dafür entwickelte, dass Erzählkunst Lebenskräfte spendet: In ihrem Buch „Body Eloquence“ beschreibt sie die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen bestimmten Geschichten und den Organen des menschlichen Körpers. Das Ergebnis ihrer Arbeit beweist: Erzählkunst ist eine heilende Kunst.
  • Ökologie und Umweltbildung
    Mit ihrem Slogan „Die Geschichte der Natur und die Natur der Geschichte“ engagiert sich die britisch-norwegische Erzählerin und Aktivistin Georgiana Keable mit künstlerischen Mitteln leidenschaftlich für ein ökologisches Bewusstsein. Seit 1997 lehrt sie Erzählkunst an der Universität in Oslo und hat ein mehrsprachiges Netzwerk für Erzählkunst gegündet.
  • Interkulturelles Erzählen
    Gauri Raje arbeitet mit Migrant*innen und Asylsuchenden, um deren Ausdruckskraft in der für sie fremden Sprache Englisch zu stärken. Für Gauri ist das Erzählen eine radikale Form von Gemeinschaftskunst und damit viel mehr als nur Performance. Sie setzt sich intensiv mit den Phänomenen gegenseitiger Wahrnehmung beim mehrsprachigen Erzählen auseinander.
  • Gemeinschaftsbildung
    Mit den Geschichten kehrte das Leben zurück: Stella Kassimati erzählt von der Wiederbelebung eines fast vergessenen Dorfes in ihrer alten Heimat Kreta. Heute hat ihre Initiative „Friends of Amari“ über 50 Mitglieder. Mehr als 200 Menschen haben inzwischen im malerischen Amari am Fuß des Psiloriti erzählen gelernt – wo einst Zeus spielte, als er noch ein kleiner Junge war…
  • Forschung und Recherche
    „The multicolored Lady“ Csenge Zalka hat viel Erfahrung im Aufspüren von Geschichten. Ein spezieller Mix aus hingebungsvoller Neugierde und lustvoller harter Arbeit trieb sie dazu, 11 Bücher zu veröffentlichen, mit sehr wertvollen Sammlungen seltener Erzählungen aus aller Welt.
  • Entwicklung von Führungskräften
    „Wenn du Berge versetzen willst, ist deine Stimme mächtiger als deine Schaufel“, weiß Alexander Mackenzie. Jahrelang hat er mit erzählerischen Methoden Führungskräfte in Organisationen und Unternehmen trainiert und an der Cranfield School of Management sowie am Emerson College (UK) Spontanes Erzählen gelehrt. Spontanität ist für ihn eine Lebensphilosophie.
  • Die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit
    Wer Erzählen für eine Nebenbeschäftigung hält, kennt Kristin Wardetzky nicht. Für die deutsche Erzählkunstszene wirft sie ein halbes Jahrhundert Erfahrung, Beharrlichkeit und ungebrochene Begeisterung in die Waagschale.