Die Grammatik des Belebten

Innig Geliebter!
Ich habe dich so oft gerufen, und du hast mich nicht gehört.
Ich habe mich dir so oft gezeigt,
und du hast mich nicht gesehen.
Ich habe mich so oft duftend gezeigt,
und du hast mich nicht gerochen,
köstliche Nahrung, und du hast mich nicht geschmeckt.
Warum kannst du mich nicht durch den Gegenstand erreichen,
den du berührst,
oder durch süße Wohlgerüche atmen?
Warum siehst du mich nicht? Warum hörst du mich nicht?
Warum? Warum? Warum?Muhyī d-Dīn Ibn ʿArabī
Stell dir vor, du bist die Erde und möchtest mit dem Menschen sprechen. Welche Worte würdest du wählen? Eine Anklageschrift? Ein Liebesgedicht? Wie mag Ibn Arabi, der große Sufi-Mystiker, zu diesen Worten gekommen sein? Ist ihm das einfach mal so eingefallen?
Seit geraumer Zeit beschäftigen wir uns nun schon damit, zu verstehen, was Mythen eigentlich ausmacht und warum diese Art von Geschichten so enorme Wirkungen haben können (sowohl wunderbare als auch schreckliche).
Das war hoffentlich interessant und auch erkenntnisreich. Es war auch wichtig: als Erzähler*innen sollten wir über die konkrete Geschichte hinaus ein Verständnis dafür entwickeln, was wir da eigentlich erzählen. Denn auf’s Erzählen läuft das alles schließlich hinaus!
Und das ist eben auch der Knackpunkt. Alles, was wir bisher zum Thema Mythen gelernt haben, war gut für die Vorbereitung. Aber irgendwann wird es still werden an der Feuerstelle; erwartungsvolle, fragende Gesichter werden dich anschauen. Die Geschichte, die du gleich erzählen wirst, ist anspruchsvoll. Sie fordert Haltung von dir.
In diesem Punkt hat uns bisher noch niemand weitergeholfen. Autoritäten wie Joseph Campbell oder C. G. Jung haben eine faszinierende, aber auch sehr psychologische Perspektive zum Thema erarbeitet. Alle Götter und Dämonen, von denen die Mythen nur so wimmeln, liegen demzufolge in uns selbst, im individuellen oder kollektiven Unbewussten.
Der Weg, den die Inhalte der Mythen gehen, ist der Weg der Bewusstwerdung, nämlich vom Unbewussten (wie es in Träumen an die Oberfläche gespült wird) über die Vorahnung zur Ahnung, dann zum Gedanken und schließlich zur Gewissheit.
In „Die großen Unbekannten“ haben wir uns bereits mit dem kollektiven Unbewussten auseinandergesetzt. Offenbar existiert so etwas auch bei anderen Lebewesen, in diesem Fall nachgewiesen bei Hühnern. Das ist zwar interessant, wirft aber eine Menge Fragen auf: Gilt das auch für andere Tiere? Womöglich auch für Pflanzen? Können verschiedene Arten von Lebewesen ein kollektives Unbewusstes miteinander teilen? Spätestens hier verlieren wir die Spur.
Wir haben auch die indische Philosophie und die verblüffende Doppelnatur des Mythos kennen gelernt. Als westlich sozialisierte Menschen kommen wir da allerdings auch schnell an unsere Grenzen. Die indische Philosophie ist im Kern spirituell und hat auch Kapazitäten wie Campbell und Jung geprägt. Beide haben so etwas wie einen „psychologischen Zugang zu Spiritualität“ erarbeitet. Das war eine großartige Leistung, die uns heute ermöglicht, die Bibel, den Koran, die Upanishaden oder das Tao-Te-King mit ganz anderen Augen zu lesen. Aber das hilft uns beim Erzählen auch nicht weiter.
Wie wir’s auch drehen und wenden: Immer steht der Mensch selbst im Zentrum aller Überlegungen. Wenn wir Mythen erzählen wollen, reicht das nicht aus. Dann müssen wir unsere eigene Perspektive verlassen können.
„Eine gefährliche Reise zu unternehmen erfordert Mut und Hingabe an etwas Größeres als uns. Geschichten, die nur uns selbst ins Zentrum stellen, führen uns geradewegs in den Abgrund“, erklärt der britische Mythologe und Storyteller Martin Shaw.
Die Schönheit und Kraft mündlich erzählter Geschichten liegt nicht zuletzt an ihrer Vergänglichkeit. Wenn wir erzählen, rezitieren wir nicht fixierte Texte, sondern wir präsentieren flüchtige Momentaufnahmen lebendiger Prozesse. Stell dir für einen Moment vor: Kein Internet, indem du entsprechende Websites findest oder Artikel wie diesen. Keine Literaturangaben, keine Bücherregale. Kein Notizbuch. Wie willst du dir irgendetwas merken? Welche Gedächtnisstütze bleibt dir?
In vielen oralen indigenen Kulturen ist die belebte, ausdrucksstarke Landschaft Trägerin der Geschichten. Was wir in unserer modernen westlichen Gesellschaft mehr oder weniger offen als „primitiv“ ablehnen, ist in diesen Kulturen ein wichtiges Fundament: Animismus – die Erfahrung der Welt als belebt und ausdrucksstark.
„Wir wissen von vielen Kulturen, dass die Seele umworben werden will“, erklärt Martin Shaw. „Wenn also die Erde selbst eine Seele hat, muss diese Seele richtig behandelt werden. Sie darf nicht ausgebeutet werden. Und weil ich die Welt als ein beseeltes Wesen betrachte, glaube ich, dass wir vor allem den Dialog, die richtige Beziehung zu ihr, auf übelste Weise missbraucht haben. Es geht im Wesentlichen um’s Zuhören.“
Was das betrifft, sind uns schriftlose, indigene Kulturen weit voraus. Wenn du nicht einfach in den Supermarkt gehen kannst, um Essen einzukaufen, musst du gegenüber deiner Umgebung zwangsläufig sehr viel aufmerksamer sein.
Wenn du jagen musst, um zu überleben, können dir Spuren im Sand Geschichten über die vorbeiziehenden Tiere erzählen. Von deiner Fähigkeit, die Zeichen zu lesen und die Geschichten zu hören, hängt das Überleben deines Stammes ab. Noch heute gibt es Völker wie die !San Buschleute, die in der Kalahari auf diese Weise leben und zu den besten Fährtenlesern der Welt zählen. Einen guten Eindruck von ihren Fähigkeiten vermittelt der Dokumentarfilm „The great Dance“ von Craig Foster. Für die !San hat jedes Sandkorn Ausdrucksvermögen und übermittelt überlebenswichtige Botschaften.
Der Ökologe und Philosoph David Abram nennt diese Art von Ausdrucksvermögen „die Grammatik des Belebten“. Der Erzähler Martin Shaw nennt es „mythopoetische Sprache“ und erklärt:
„Wenn ein Tier einen Ruf aussendet, wird ein Echo zurückgeworfen, das auch einem beinahe blinden Wesen ein Gefühl für seine Umgebung vermitteln kann. Genau das hat die Erde immer schon getan. Sie sendet einen Puls aus – und wartet auf Widerhall. Geschichtenerzählerinnen und -erzähler sind diejenigen, die diesen Ruf hören und erwidern können: Vielleicht erreicht der Ruf einen Inuit-Fischer, der an einem Eisloch kauert, vielleicht einen Wanderer auf einem Feldweg in Wales oder eine Frau, die frühmorgens die Sommersonne zum Gärtnern nutzt. Diesem Puls können wir ablauschen, wie wir leben sollen.“
Wenn wir in unseren Geschichten mehr als nur Worte transportieren wollen, wenn wir also „wirklich“ Erzählen lernen wollen, dann sollten wir uns mit der Art und Weise des Zuhörens auseinandersetzen. Was Shaw beschreibt, ist eine sehr tiefe Art des Zuhörens und sie bildet das Fundament der Erzählkunst.
Wenn wir lernen, so zu hören, akzeptieren wir, dass alles in der Natur über Ausdrucksvermögen verfügt, egal ob Flüsse oder Wolken, Steine oder Pflanzen, Menschen oder Tiere. Wenn wir lernen, so zu hören, wird sich mit der Zeit unsere Sprache verändern. Wir werden Wege entwickeln, jene Veränderungen buchstäblich wachzurufen, die wir uns für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erträumen.
Es war unter anderem diese Fähigkeit, die Ibn Arabi bereits im Mittelalter zu einem Niveau kultiviert hat, dass wir heute längst nicht mehr erreichen. Es ist unter anderem diese Fähigkeit, die dir jene Haltung verleiht, die gefragt ist, wenn es an der Feuerstelle still wird und du in erwartungsvolle Gesichter schaust.
Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf nachhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lokalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.
Weiterführende Infos
- Martin Shaw: Das Prinzip Gefährtenschaft. Interview in oya, erschienen in Ausgabe #46/2017
- Emmanuel Vaughan-Lee: Valemon the Bear. Myth in the Age of the Anthroprocene. Eine Produktion des Emergence Magazine, 2024
- Martin Shaw: Scatterlings. Getting claimed in the Age of Amnesia. Ashland 2016
- David Abram: Im Bann der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt. Klein Jasedow 2015
- Llewellyn Vaughan-Lee (Hg.): Spirituelle Ökologie. Der Ruf der Erde. Saarbrücken 2020
- Craig Foster: The great Dance. A Hunter’s Story.