Forschung und Recherche

Die Kunst des Geschichtenerzählens geht auf die Anfänge menschlicher Kultur zurück. Mitunter kommt sie sehr subtil daher und wird im medienüberfluteten Alltag oft kaum wahrgenommen.
Dass sie deshalb keine Bedeutung hätte, ist ein gefährlicher Irrtum. Geschichten beflügeln unsere Imagination, nähren unser Verständnis von Sprache und können uns in Krisenzeiten Halt und Orientierung bieten.
In unserer Reihe The Storyteller’s Way lassen wir passionierte Erzähler*innen zu Wort kommen, die ihre Berufe kreativ zu Anwendungsfeldern der Erzählkunst umgestaltet und sie dadurch zur Entfaltung gebracht haben.
Csenge Zalka
Geschichten waren schon immer mit meinem Leben verwoben; ich kann mich nicht erinnern, dass das jemals anders war. Jedenfalls bin ich in einer Familie aufgewachsen, in der viel geredet wurde! Als ich klein war, erzählten mir meine Eltern viele Geschichten und besonders mein Großvater kannte eine Menge Sagen und Legenden aus der Region.
Als Teenager las ich ständig Mythen und Legenden. Ich liebte diese Geschichten – aber ich hatte ja gelernt, dass Erzählen schon längst kein Beruf mehr ist. Aber da ich nun Mal so gerne in der Vergangenheit grub, beschloss ich, Archäologie zu studieren.
Erst an der Universität fand ich heraus, dass es ja doch professionelle Erzähler*innen gibt, und Festivals und Konferenzen in aller Welt und Leute, die davon tatsächlich leben. Also begann ich, wann immer möglich, mit diesen Leuten zu netzwerken – und die erzählten mir eine Menge über ihren Beruf. Dann bekam ich ein Stipendium und die Chance, ein Jahr als Austauschstudentin in den USA zu verbringen, wo ich viel Zeit auf Storytelling Konferenzen und Festivals verbrachte und einfach Leute traf, die als Erzählerinnen arbeiteten.
Storytelling in den USA studieren
Wieder zuhause, beendete ich mein Studium in Archäologie und habe letztendlich nie als Archäologin gearbeitet. Stattdessen ging ich zurück in die Vereinigten Staaten und als Studentin im Fulbright Programm verbrachte ich die nächsten 6 Jahre damit, einen Master und sogar eine Dissertation in Storytelling zu machen. Um eine gute Erzählerin zu werden, ist das zwar weder eine Voraussetzung noch eine Garantie; aber mir hat es jedenfalls eine Menge Spaß gemacht!
In Jonesborough gibt es das „International Storytelling Center“, das jedes Jahr das „National Storytelling Festival“ ausrichtet. Das ist ein riesiges Festival für Erzählkunst, das immer wieder Zehntausende Besucher anzieht. In den 80er Jahren beschloss dann die lokale Uni (East Tennessee State University – ETSU), ein Storytellingprogramm aufzusetzen – wo doch schon mal die ganzen Erzähler*innen in greifbarer Nähe waren. Das war wirklich ein großer Wurf, wir lernten eine Menge Hintergrundwissen. Wir hatten Vorlesungen in Psychologie und Erzählkunst, Linguistik, Geschichte der Erzählkunst, Anthropologie und auch praktische Kurse wie Forschung für Erzähler, Stimmbildung beim Erzählen und sogar einen Kurs namens „Marketing in der Erzählkunst, wo es darum ging, sein Business als Erzählerin zu vermarkten. Tja, die Amis… Wir waren lediglich 8 „Vollzeitstudierende“ in meinem Kurs, aber während der Sommerzeit waren viel mehr Leute dort, hauptsächlich Erzählerinnen, die an speziellen Fortbildungen teilnahmen. Auf den Sommercamps gab es eine große Bandbreite unterschiedlichster Themenfelder, die von den Vollzeitstudierenden frei nach Interesse belegt werden konnten, wie z. B. Erzählkunst und Musik, Afrikanisches Geschichtenerzählen oder Erzählen in den bildenden Künsten.
Man konnte es also ganz gut eine Weile aushalten – was ich auch tat. Meine Dissertation schrieb ich über das Thema „Forenbasierte Rollenspiele als eine Form des digitalen Erzählens“. Das heißt, ich analysierte verschiedene Online-Foren, wo sich Tausende von Leuten trafen, um schriftlich Rollenspiele durchzuführen und ich erforschte, wie genau diese Gemeinschaften funktionierten, und wie deren Funktionsweise mit dem traditionellen Erzählen im digitalen Raum zusammenhängt.

Arbeiten als Erzählerin
Inzwischen arbeite ich als Erzählerin für die Világszép Stiftung, die Kinder unterstützt, die unter der Obhut des staatlichen Kinder- und Jugendschutzsystems stehen. Kurz gesagt ist es mein Job, die freiwilligen Erzähler*innen zu trainieren, die regelmäßig die Kinder besuchen, um ihnen z. B. Gute-Nacht-Geschichten zu erzählen. Die Stiftung unterstützt auf verschiedene Arten und Weisen, bietet Sommer Camps, ein Mentoring-Programm, Freizeitaktivitäten außerhalb der Schulzeiten und viele andere Dinge an, aber meine Aufgabe ist es, die Geschichtenerzählerinnen zu koordinieren – ein Job, den es in Ungarn vermutlich kein zweites Mal gibt…
Das bedeutet, ich muss Geschichten für verschiedene Altersstufen zusammenstellen. Das Alter der Kinder, mit denen wir arbeiten, liegt irgendwo zwischen Kindergarten und jung erwachsen (18+); es braucht also verschiedene Geschichten für unterschiedliche Altersgruppen und ich muss sicherstellen, dass die Erzähler*innen immer auf eine angemessene Geschichte zurückgreifen können, egal, wo und bei wem sie ihren nächsten Einsatz haben.
Jeden Monat stelle ich eine Sammlung von 7 neuen Geschichten zusammen und schicke sie den Freiwilligen, damit sie mehr zu erzählen haben. Ich recherchiere und übersetze die Geschichten und bereite sie dann in eine erzählbare Version auf, die ich zusammen mit einer Auflistung meiner Änderungen und der Originalquellen an die Erzähler*innen versende. Da es sich dabei um Freiwillige und nicht um Profis handelt, versuche ich sicher zu stellen, dass sie eine „erzählfertige“ Geschichte erhalten.
Neben meiner Arbeit für die Stiftung bin ich noch selbständige Künstlerin, habe Auftritte an Schulen und auf Festivals und erzähle Geschichten zu verschiedenen Anlässen. Im Moment bin ich oft in der Mittel- und Oberstufe unterwegs, denn Teenager sind ein tolles Publikum! Sie sind sehr clever und mögen die großen Abenteuer und Liebesgeschichten, sie mögen Helden und Mythen – sie wollen eben gerade jene Geschichten hören, die ich selbst auch am liebsten erzählen mag. Sie sagen dir direkt ihre Meinung, kommentieren die Geschichten, machen Witze darüber und stellen eine Menge Fragen.
Sie sind ein sehr engagiertes Publikum, aber längst erzählt ihnen niemand mehr Geschichten. Es ist wirklich sehr schade dass niemand Erzähler*innen zu Jugendlichen einlädt, weil alle glauben, dass die keine Geschichten mehr hören wollen. Ich freue mich sehr darüber, sie mit einigen meiner Lieblingsgeschichten bekannt zu machen und beobachte dann einfach, wie sie diese Geschichten für sich selbst entdecken.
Ich weiß nicht, ob das eine ungarische Spezialität ist, aber alle Jugendliche, mit denen ich arbeite, haben diese japanischen Anime-Zeichentrickfilme gesehen. Also habe ich nach japanischen Sagen und Legenden gesucht, die eine Verbindung zu Anime hatten. Als ich diese alten Geschichten erzählte, erkannten sie plötzlich einige Charaktere wieder. Habe ich schon erwähnt, dass sie Superhelden wie Loki lieben? Es dauerte nicht lange, und sie wollten, dass ich ihnen ein paar Geschichten aus der nordischen Mythologie erzählte, wegen Loki und Thor…
Es macht wirklich Spaß, diese alten Geschichten mit den Teenagern zu verbinden und den Cartoons, die sie schauen.

Forschung und Publikationen
Geschichten suchen und zusammenstellen ist definitiv der zeitaufwändigste Teil meiner Arbeit.
Die Resultate meiner ständigen Recherche fließen in meinen Blog und ich habe mehrere Bücher mit verschiedenen Geschichtensammlungen veröffentlicht (meist seltene Volksmärchen). Dabei konzentriere ich mich normalerweise auf eine bestimmte Region oder ein bestimmtes Thema. Mein neustes Buch ist gerade erst vor einem Monat erschienen, das ist eine Sammlung von Trickster-Geschichten. Ehrlich gesagt liebe ich Trickster, und die Kids mit denen ich arbeite, ebenfalls, denn sich können sich gut damit identifizieren, listig und clever zu sein.
Ein anderes meiner Bücher, das auch im letzten Monat in Ungarn erschienen ist, besteht aus einer Sammlung von Volkserzählungen, die sehr seltene Versionen klassischer Märchen sind. Ich konnte zum Beispiel ein männliches Aschenputtel in Afrika finden, eine amerikanische Blaubart-Geschichte oder eine indische Version von Dornröschen.
Die Vorlesungen zur Forschung an der Universität richteten sich eher auf die akademische Forschung, bzw. wie man z. B. ein Forschungspapier liest oder schreibt. Wenn ich jedoch einen Forschungs- bzw. Recherche-Workshop gebe, lehre ich die praktischen Dinge – wovon ich eine Menge auch einfach selbst gelernt habe, indem ich sehr viel Zeit im Internet verbracht habe, um irgendwelche fehlenden Teile von Geschichten zu suchen. Im Grunde ist das eine Schatzsuche: Ich verbringe 5 h vor dem Bildschirm, bis ich endlich finde, wonach ich gesucht habe; so was macht mir einfach Spaß.
Übrigens recherchiere ich nicht nur online, sondern lese auch sehr viel. Wenn ich Bücher oder Geschichten für den Blog zusammenfasse, gehe ich geografisch vor, dann ist es nämlich einfacher, Geschichten einer bestimmten Region mit denen der benachbarten Kulturen zu vergleichen.
Im Moment suche ich zum Beispiel nach Geschichten von chinesischen Minderheiten. Mein Ausgangspunkt war eine staatliche Liste mit 50 anerkannten Minderheiten. Der nächste Schritt war folglich, darüber nach Büchern zu suchen.
Manchmal werden mir Bücher geschenkt. Manchmal stoße ich auf ein Buch und finde es einfach interessant, manchmal senden mir Autor*innen ihre Bücher mit der Bitte, sie zu teilen und manchmal suche ich auch einfach nach Büchern, die sich am ehesten mit der Kultur auseinandersetzen, deren Geschichten ich suche.
Oft muss ich die Bestandteile einer Geschichte aus verschiedenen Büchern zusammensuchen; das bedeutet, viel zu lesen und einen Überblick darüber zu behalten, was man gelesen hat. Normalerweise teile ich mir die Bücher ein: Wenn ich weiß, dass der Blogartikel in zwei Wochen fertig sein soll, weiß ich auch genau, wie viele Geschichten ich am Tag lesen muss.
Außerdem liebe ich Wettbewerbe. Manchmal nehme ich auch an Lesewettbewerben teil. Vielleicht startet jemand die Challenge, pro Tag ein Volksmärchen zu lesen und viele Leute nehmen teil und posten jeden Tag, was sie gerade lesen. Viele Leute lesen sogar meine Bücher für die Wettbewerbe! Da ich sowieso immer auf der Suche nach neuen Geschichten bin, ist es für mich sehr praktisch und motivierend, an einem solchen Lesewettbewerb teilzunehmen.

Fokus und Werte
Als Recherchierende fokussiere ich mich klar auf traditionelle Geschichten wie alte Legenden, Sagen und Mythen, auch Epen. Ich bin zwar nicht in Nostalgie gefangen, aber eben eine recherchierende Erzählerin. Ich will die Verbindungen zwischen traditionellen Geschichten und populärer Kultur entdecken und formen, so dass man erkennen kann, wie die traditionellen Geschichten in moderner Form noch immer in uns lebendig sind. In gewisser Weise ist das eine Rückverbindung.
Als Erzählerin stelle ich mir auch oft die Frage nach der Verantwortung. Zwei meiner in Ungarn erschienenen Bücher sind Sammlungen feministischer Erzählungen. Ich schreibe die Geschichten nicht um, sondern suche und finde Geschichten mit Werten, mit denen ich mich verbinden kann. Da gibt es vielleicht eine starke weibliche Heldenfigur, oder eine fürsorgliche Vaterfigur oder Held*innen mit verschiedenen Einschränkungen. Ich empfinde es als meine Verantwortung als Erzählerin, ein diverses Repertoire zu pflegen, besonders, weil ich oft mit benachteiligten Kindern arbeite. Das können zum Beispiel Mädchen sein, die in einer männerzentrierten Umgebung schwer zu kämpfen haben, oder Kinder, die Minderheiten wie den Roma angehören oder irgendwelche besonderen Bedürfnisse haben.
Kultur und Potenzial des Erzählens
Was die Erzählkultur angeht, gibt es in Ungarn zwei wesentliche Zweige. Der eine Zweig beschäftigt sich mit traditionellen ungarischen Volkserzählungen, oftmals in den alten regionalen Mundarten. Diese Art der Brauchtumspflege ist sehr bekannt und beliebt.
Der andere Zweig scheint wohl sehr speziell ungarisch zu sein, und dabei geht es um Märchentherapie. Das ist wirklich eine große Sache mit Hunderten von Therapeut*innen, die keine Performances machen, sondern das Geschichtenerzählen als einen spezifischen Teil ihrer Arbeit einsetzen. Dieses Genre angewandter Erzählkunst ist sehr bekannt und die Leute fragen mich oft, ob ich Therapeutin sei, wenn ich mich als Erzählerin vorstelle.
Vielleicht habe ich so etwas wie einen dritten Zweig eröffnet, den man als „International Storytelling“ bezeichnen könnte, denn ich erzähle nicht nur ungarische Volksmärchen und auch nicht ausschließlich in Ungarn.
Mit der Pandemie haben sich besonders die digitalen Formen des Geschichtenerzählens stark verändert. Da gibt es sicher noch viel mehr zu verändern und zu verbessern, wenn das digitale Erzählen als Ergänzung zu Live-Auftritten Bestand haben soll. Andererseits hat es in der Krise den Leuten auch geholfen, die Verbindung nicht zu verlieren und bevor es überhaupt keine Erzählkunstfestivals mehr gibt, nehme ich lieber an digitalen teil!
Ausbildung und Training sind wichtig. Ich würde es sehr begrüßen, wenn mehr Erzählschulen gegründet würden, wo man sich auf unterschiedlichste Weise dem Erzählen nähern kann, sogar auf einem akademischen Level. Das ist eine Kunstform wie jede andere – warum kann man Erzählen fast nirgendwo studieren?
Geschichtenerzählen wird sehr oft mit Auftritten an verschiedenen Orten in Verbindung gebracht. Aber ursprünglich hatten die Gemeinschaften ihre eigenen Erzähler*innen, die ihr Publikum und dessen Bedürfnisse sehr gut kannten. Egal ob die Gemeinschaft aus einer Stadt, einem Dorf, einer Schule oder einem Kinderheim besteht – ich hoffe sehr, dass diese Gemeinschaften die Möglichkeit wieder entdecken, mit ihren eigenen Hüter*innen jene Geschichten weiterzutragen, die durch Teilen ein gemeinsames Wachstum ermöglichen.
Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf nachhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lokalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.
Weiterführende Infos
- Multicolored Diary (englisch) – Csenges Blog, in dem sie regelmäßig Tipps und Ergebnisse ihrer Recherchen veröffentlicht
- vgl. auch Csenges Facebook Profil
- Tales of Superhuman Powers. 55 Traditional Stories from Around the World. McFarland & Company, 2013
- Dancing on Blades. Rare and exquisite folktales from the Carpathian Mountains. Parkurst Brothers Publication, 2018