Ökologie und Umweltbildung

Wie? Erzählen? Das ist doch kein Beruf?! Wo und wie arbeitest du denn dann?
Die Kunst des Geschichtenerzählens geht auf die Anfänge menschlicher Kultur zurück. Mitunter kommt sie sehr subtil daher und wird im medienüberfluteten Alltag oft kaum wahrgenommen.
Dass sie deshalb keine Bedeutung hätte, ist ein gefährlicher Irrtum. Geschichten beflügeln unsere Imagination, nähren unser Verständnis von Sprache und können uns in Krisenzeiten Halt und Orientierung bieten.
In unserer Reihe The Storyteller’s Way lassen wir passionierte Erzähler*innen zu Wort kommen, die ihre Berufe kreativ zu Anwendungsfeldern der Erzählkunst umgestaltet und sie dadurch zur Entfaltung gebracht haben.

"What if you were a teacher but had no voice to speak your knowledge? What if you had no language at all and yet there was something you needed to say? Wouldn't you dance it? Wouldn't you act it out? Wouldn't your every movement tell the story? In time you would be so eloquent that just to gaze upon you would reveal it all. And so it is with these silent green lives."

Georgiana Keable

In gewisser Weise hatte ich eine „mythische“ Kindheit – mein Leben entwickelte sich zwischen Licht und Schatten. Ich lebte in London und dieser Ort war für mich erfüllt von Konkurrenzdruck und Angst. Als kleines Mädchen war ich sehr schüchtern und wenn ich in der Klasse irgendetwas sagen sollte, wurde ich schnell rot. Das war furchtbar.
Aber an den Wochenenden nahmen mich meine Eltern mit hinaus zum Landhaus meiner Oma, wo wir so gerne spielten. Ich liebte das Spielen über alles, es bedeutete Freiheit für mich, es bedeutete, durch diese weite Landschaft der Kreativität zu gleiten.

Meine Mutter war zwar sehr streng, aber sie erzählte uns Geschichten! Bibelgeschichten, tibetische Geschichten, Geschichten aus Irland oder aus Afrika – einfach alles, was man sich nur vorstellen kann. Es gibt diese beiden extremen Ausprägungen, bei denen man entweder nur die brillante Erzählerin im Gedächtnis behält oder eben nur die Geschichte. Meine Mutter fiel in die zweite Kategorie: Ich habe absolut keine Erinnerung mehr von ihr, wie sie erzählt – aber ich erinnere die Geschichten sehr detailliert.

Mein Vater hatte uns Kindern ein altes Puppentheater geschenkt. Damit spielte ich oft und gab Puppentheater-Vorstellungen für die Nachbarskinder. Wie gesagt: Ich liebte das Spielen über alles und das Puppentheater ermöglichte mir auch als Jugendliche weiterzuspielen, da ich immer noch sehr schüchtern war. Andererseits aber wünschte ich mir die Aufmerksamkeit. Ich wollte unbedingt eine berühmte Persönlichkeit werden und konnte nicht verstehen, warum jemand irgendetwas anderes wollen sollte.

Und dann war da plötzlich diese seltsame Idee in meinem Kopf: Ich malte mir aus, mit 18 würde ich auf die Theaterschule gehen, ich würde mich verändern und keine Angst mehr haben.
Das war nicht der Fall, als ich 18 wurde. Doch als ich die Schule verließ, passierte tatsächlich eine wunderbare Veränderung – und auf die eine oder andere Weise fing mein Leben nun endlich an. Mir wurde nun klar, dass ich weder ein Genie noch eine Heilige war, sondern einfach eine ganz normale Person und diese Erkenntnis gab mir die Freiheit, einfach so zu leben.

Evangelistin werden

Eigentlich begann ich mit dem Erzählen schon als Teenager, zusammen mit Ben Haggarty. Ben sollte später die legendäre Company of Storytellers gründen, die wesentlichen Anteil am Wiederaufleben der Erzählkultur in Großbritannien hatte. Ich erzählte meine erste Geschichte auf der Geburtstagsparty seiner Mutter.

Ein Jahr später ging ich tatsächlich auf die Theaterschule und hatte verschiedene Jobs im Theater, aber das war eine eher frustrierende Erfahrung. Zunächst einmal machst du deine Performance buchstäblich ins Schwarze – man bekommt ja erst Mal gar kein Feedback aus dem Publikum. Also machte ich viel Comedy, um direkteres Feedback zu bekommen, was direkt in die nächste Frustration führte: Die Stücke waren oft buchstäblich Quatsch. Ganz besonders jene Rollen, die oft von jungen Frauen gespielt wurden, waren oftmals völlig lächerlich und sinnlos. Und, nun ja, das dritte Problem war: Ich hatte immer noch schreckliches Lampenfieber.

Eines Tages besuchte mich Ben Haggarty mal wieder. Auf seine eigentümliche Weise sah er, was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sah, und er fragte mich: „Sollen wir jetzt mal anfangen, Geschichten zu erzählen?“ Wir unterhielten und eine Zeitlang über das Geschichtenerzählen und dann beschlossen wir, eine erste Performance zusammen zu machen. Dabei zeigte sich, dass buchstäblich alles, was Ben prophezeit hatte, genau so eintraf. Und ich verstand: Das ist mein Weg. So kann ich das machen.

Zu diesem Zeitpunkt war die mündliche Tradition in London praktisch tot. Niemand aus meinem Bekanntenkreis hatte als Kind von den Eltern Geschichten erzählt bekommen. Und ich lief dort herum wie eine Art Evangelistin für das Erzählen: Geschichtenerzählen war plötzlich meine Antwort auf jede nur erdenkliche Frage!

Der Schlüssel lag in den Schulen. Die Schulen waren begeistert und so hatten wir eine Menge zu tun. Manchmal hatte wir 6 oder sogar 7 Shows am Tag. Wenn ich heute so darüber nachdenke, klingt das natürlich völlig durchgeknallt – aber es war auch eine unglaubliche gute Lernplattform. Bis heute denke ich, wenn du eine Geschichte wirklich verinnerlichen willst, musst sie immer und immer und immer wieder durcharbeiten. Wenn du das tust, stehen die Chancen gut, dass die Geschichte wirklich lebendig wird, so dass du sie formen und mit ihr spielen und sie zusammen mit den Zuhörenden auf die Probe stellen kannst.
Die Kinder waren jedenfalls verrückt nach Geschichten. Sie liebten die Erzählstunden so sehr, dass sie sich ein Jahr später noch an die Geschichten erinnern konnten, wenn ich wieder in ihre Klassen kam.

Erzählkunst und Ökologie

Während der letzten 10 Jahre erzählte ich hauptsächlich draußen. Wenn das als Geschichtenwanderung organisiert wird, hören die Kinder nicht nur eine Geschichte, sondern sie bewegen sich durch diese Geschichte. Sobald sie mich treffen, sind sie in einer Parallelwelt. Wenn ich Geschichten über Pflanzen erzähle, schlüpfe ich in die Rolle eine viktorianischen Botanikerin, wenn ich Geschichten über Franz von Assisi erzähle, schlüpfe ich in die Rolle einer Pilgerin.

Es geht also nicht allein um Geschichtenerzählen – die natürliche Umgebung spielt eine wichtige Rolle. Die Kinder hören nicht nur Geschichten, sondern sie setzen sich auch intensiv mit der Natur und der Geschichte auseinander und sie werden herausgefordert: Sie sammeln Samen, sie sprechen mit Bäumen, sie laufen barfuß und manchmal wandern sie sogar schweigend. Das bewirkt ein intensives Versenken in die wechselseitige Verbundenheit zwischen uns und der belebten Welt, die uns umgibt.

Im Moment arbeite ich gerade an einer Performance, die in einigen Wochen stattfinden wird. Wir werden Geschichten über Nutztiere erzählen – über jene Tiere also, mit denen wir in den letzten mehr als zehntausend Jahren unser Leben geteilt haben – als ein Türöffner in Richtung Biodiversität, ein Augenöffner für das Verständnis, dass wir alle Teil einer Biosphäre sind, die viel mehr Leben als nur uns Menschen umfasst.

Orte zum Sein – Orte zum Bleiben

Letzten Oktober zog ich auf diesen alten Bauernhof, eine Stunde nördlich von Oslo. Eigentlich liegt er ziemlich dicht an der Autobahn, aber man fährt ab auf ein schmales Sträßchen, das nicht mal asphaltiert ist – und plötzlich ist man in einer anderen Welt. Auf der Straße stehen die Schafe und vom großen Hof geht der Blick weit über die endlosen Ketten der norwegischen Berge. Während der letzten 50 Jahre hat hier niemand gelebt.

In meinem Wohnhaus gibt es keinen Strom. Tatsächlich! Kein elektrisches Licht, keine elektrische Heizung, kein Heißwasser, nur eine Quelle draußen. Aber es ist ein solides Haus mit 11 Schlafzimmern. Bislang lebe ich hier allein. Es klingt verrückt, aber im letzten Monat ist mir das überhaupt zum ersten Mal aufgefallen, obwohl ich doch bisher immer mit anderen Menschen zusammen gelebt habe und nie allein. Aber seit ich letzten Oktober hier eingezogen bin, bin ich hier allein mit meiner Katze.

Zuerst war ich etwas in Sorge, denn in Norwegen gibt es Gegenden, in denen die Menschen zugezogenen Fremden gegenüber nicht besonders aufgeschlossen sind. Hier ist das aber offenbar nicht der Fall. Alle meine Nachbarn sind sehr freundlich, immer wieder mal kommen sie vorbei und bringen mir kleine Geschenke mit. Ich glaube, viele Menschen kennen und lieben diesen Hof, der so lange leer stand, und freuen sich nun, dass jemand da ist und sich um den Ort kümmert.

Heiliger Aktivismus

Der Hof fordert viel – und bietet zugleich eine großartige Möglichkeit zur Verbindung. Das Geschichtenerzählen muss nicht für sich allein stehen, sondern kann zum Beispiel Teil eines Kräuterworkshops sein.
Vor zwei Wochen sind die Schwalben gekommen. Ich habe sie noch nie zuvor so intensiv wahrgenommen wie jetzt. Sie tanzen hier regelrecht durch die Luft! Sie kommen den weiten Weg von Afrika bis nach Norwegen hinauf, und dann bauen sie hier ihre Häuser, die genauso aussehen wie die traditionellen afrikanischen Hütten (nur eben überkopf).

Als ich mit dem Ökophilosophen Martin Lee-Müller zusammenarbeitete, der das Buch „Being salmon, being human“ geschrieben hat, habe ich vieles über Transformation gelernt. Als Erzählerin glaube ich, dass wir mit Hilfe unserer Imagination in der Lage sind, andere Spezies zu verkörpern. Das Ergebnis mag völlig unkorrekt sein, aber allein durch den Prozess, der durch diesen Versuch ausgelöst wird, kommen wir anderen lebendigen Arten sehr viel näher.
Wenn ich mit Kindern eine Geschichtenwanderung mache, sage ich manchmal: „Lasst mal sehen, wie viele verschiedene Samen von Bäumen ihr sammeln könnt; aber denkt daran, dass die Bäume Lebewesen sind, also fragt sie bitte, ob ihr die Samen nehmen dürft.“ Für die Kinder ist das überhaupt kein Problem. Sie machen das ganz auf ganz natürliche Art.

Ich bin davon überzeugt, dass genau diese Verbindung zur natürlichen Welt in unserer Zeit des Wandels etwas ganz entscheidendes ist. Wir erzählen eine Geschichte über Corona, dann hören wir eine andere Geschichte über Corona und so weiter und so fort. Wir versuchen verzweifelt herauszufinden, welche denn nun die wahre Geschichte ist, welche der vielen Geschichten wir glauben sollen. Das Gleiche gilt für jede Art von Umweltaktivismus, weshalb ich auch Geschichten für Organisationen wie Extinction Rebellion erzähle.
Die Geschichten vom Klimawandel, die uns die Wissenschaft erzählt, sind schrecklich und eigentlich will sie niemand mehr hören. Die Frage ist also: Wie erzählt man eine Geschichte, die den Eindruck hinterlässt, es lohnt sich zu handeln? Wenn wir nämlich rein logisch darüber nachdenken, lohnt sich überhaupt nichts mehr. Wir zerstören unsere Lebensgrundlagen mit zunehmendem Tempo, die Bedrohung durch den Klimawandel nimmt immer stärker zu und jede Form von Aktion ist höchstens ein Tropfen auf dem heißen Stein, weil sie nicht schnell genug helfen wird.

Doch wir haben keine Wahl.
Noch sind wir am Leben und in dem Maße, in dem wir für unsere Lebendigkeit dankbar und uns der Unermesslichkeit und Schönheit des Lebens bewusst sind, müssen wir einfach versuchen, eine Geschichte zu entwickeln, die anderen Menschen helfen kann, an eben diesen Punkt der Erkenntnis zu kommen. Es gibt so viele Geschichten darüber, wie beschissen wir Menschen sind – das ist doch so ziemlich alles, was wir jeden Tag in den Nachrichten zu hören bekommen.
Aber das muss nicht sein, es gäbe auch andere Geschichten! Robin Wall Kimmerer hat mit „Braiding Sweetgrass“ ein wunderbares Buch geschrieben, in dem es viel um das Geschichtenerzählen geht. Sie erzählt die Geschichte, wie sehr wir Menschen als Spezie eine Schlüsselstellung einnahmen und wie sehr wir dazu beitrugen, die Artenvielfalt zu erhalten und zu erweitern. Das ist eine Geschichte, die wir sonst nie zu hören bekommen. Was wir zu hören bekommen ist, dass wir die Erde ausplündern und zerstören – schon allein durch unsere Existenz. Wer das glaubt, müsste ja zu dem Schluss kommen, es sei besser, wenn niemand von uns überhaupt existierte; das würde der Erde viel Verschmutzung ersparen.
Das heißt also: Wir brauchen Geschichten (und Handlungen) die zeigen: Oho, es gibt Menschen, die nicht nur keinen Müll verursachen, sondern sogar buchstäblich CO2 einfangen, die sich darum kümmern, die Biodiversität an ihren Lebensorten zu erhöhen und Habitate für viele Pflanzen und Tiere schaffen!
Ich glaube, die meisten Menschen haben wirklich große Sehnsucht nach solchen Geschichten.

Die Stimme der Wahrheit

Manchmal gehe ich nach draußen und bin einfach glücklich, hier zu sein. Und andererseits habe ich wirklich große Angst vor der Zukunft. Schließlich bin ich ja auch Großmutter. Damit habe ich viel Spaß, denn natürlich liebe ich es immer noch zu spielen, es ist aber auch furchterregend, wenn ich daran denke, womit meine Enkel später einmal konfrontiert sein werden.

Ich vermute, ich versuche mal wieder, mich zu verändern.
Ich versuche, so etwas wie eine Älteste zu werden – oder jedenfalls versuche ich, als älterer Mensch so zu leben, dass jüngere Menschen sagen können: „Sie versucht, die richtigen Dinge zu tun.“
Die Leute sind super inspiriert von diesem Bauernhof und erzählen mir immer, wie mutig ich doch sei. Das sehe ich ganz anders. Ich fühle mich überhaupt nicht mutig. Es fühlt sich eher so an, als hätte ich gar keine andere Chance gehabt als hierher zu ziehen. Ich schaue auch nie zurück oder bedauere meine Entscheidung. Ich bedaure höchstens, dass ich so lange gewartet und die Entscheidung nicht schon 10 Jahre früher getroffen habe.
Ich möchte also ein älterer Mensch werden, dessen Würde jüngeren Menschen das Gefühl gibt, dass es sich lohnt, für die eigenen Ideale und das Wohl der Menschen und der Erde zu kämpfen.

Für die Zukunft des Erzählens wünsche ich mir, dass die Erzählkultur wächst, und zwar in Wahrheit wächst. Es geht um die Stimme der Wahrheit. Man kann sie hören. Man hört die Qualität, den Ton einer Stimme, die eine tiefe Wahrheit übermittelt. Machen wir uns nichts vor – natürlich sind wir keine Heiligen, aber es geht darum, so sehr bei uns selbst zu sein, wahr zu sein, wie es uns im jeweiligen Moment möglich ist.
Wenn wir diese Qualität unserer Stimme entwickeln, kommt ein Echo zurück: Die Zuhörer*innen wollen nun selbst etwas bewirken, selbst erzählen, und die Menschen werden wieder auf die Suche gehen, denn sie wissen: Es ist jede Anstrengung wert, ihre „wahren“ Geschichten zu finden.
Das ist ein Haufen Arbeit, nicht wahr?

Durch angewandte Erzählkunst unterstützen wir Menschen, in ihren Umfeldern Verbundenheit und Kreativität wachzurufen. Wir sammeln und erzählen Geschichten aus verschiedensten Kulturen, die auf na­chhaltigen Denk- und Lebensweisen basieren und suchen je eigene, der lo­kalen Kultur angemessene Wege, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, Orten und Narrativen zu gestalten.

Weiterführende Infos

  • http://www.georgiana.de

  • https://opsalgard.no, Infos und Eindrücke von Georgianas Hof (Norwegisch)

  • Storytelling Radio, Fortellerhuset (Norwegische Website, Podcast englisch)

  • Robin Wall Kimmerer: Braiding Sweetgrass – Indigenous Wisdom, Scientific Knowledge, and the Teaching of Plants (Englisch); Ingram Publisher Services 2014

  • Georgiana Keable: The Natural Storyteller – Wildlife Tales for Telling (Englisch);
    Hawthorn Press 2017